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Gott im Ghetto

Wenn du nicht an Gott glaubst, woran glaubst du dann?

2010 landeten meine beste Freundin und ich auf unserer Kalifornien-Reise auf der anderen Seite der Golden Gate Bridge, in Oakland. Im verarmten Teil. Im Ghetto. In dem Gebiet der Stadt, vor dem man uns gewarnt hatte. Jeder, dem wir von unserem Vorhaben erzählten sagte,  wir sollten mal lieber nicht dort hin mit unserem jugendlichen Leichtsinn. Und wenn, dann nur ins “weisse” Gebiet. Selbsternannte Linke, selbsternannte nicht-Rassisten hatten so geredet. Es musste wirklich etwas dran sein. Oder sie waren alle Heuchler. Unser Gerechtigkeitssinn und die Überzeugung, man müsse selbst gesehen und gefühlt haben, bevor man urteilen darf, brachte uns doch dorthin.
Auf dieser Reise erlebten wir endlose Gastfreundschaft, Offenheit, tiefe Freundschaft und lernten mehr über das Leben, denn je.
Mit einem Freund besuchten wir verschiedene Familienmitglieder in Oakland. Von den Wohlhabenderen zu den Armen. Eines hatten sie gemeinsam: ihre Leidenschaft für Obama und das Christentum. Überall der Präsident und christliche Symbole in den Häusern. Wir redeten und redeten. Es ging es nur darum ob man für oder gegen Obama war. Ich fragte, was sich denn verändert habe seit der Obama an der Macht sei. Nichts, sagten sie, nichts. Ausser vielleicht, dass die Welt anders auf Schwarze schaue. Und das sei schon viel.
Es freute mich, dass sie zumindest eine kleine Veränderung zu bemerken dachten.

Einmal sassen wir in einem verlotterten, dunklen Holzhaus mit einem ebenso düsteren, zugemüllten Garten (das Entsorgen von Sperrmüll sei zu teuer). Wir besuchten die Cousine des besagten Freundes, die mit 22, bereits drei Kinder hatte und bei ihren Eltern leben musste. Als wir hinein gingen begrüsste uns niemand. Die Tür stand einfach offen. Wir setzten uns auf Sofa und sollten warten. Die Cousine, im pinken Trainer, Joint in der Hand, setzte sich gegenüber. Dann musterte sie uns, sagte kein Wort. Ich musterte ebenso. Die Situation verlangte kein “Hallo”, ich wusste, dass man hier nicht viel Wert legte auf Privatsphäre, dass Leute ein und aus gingen und sich meist wenig zu sagen hatten. Ich sah, wie sich ihr süsser, kleiner, etwa vierjähriger Sohn um ihre Gunst bemühte, sie ihn dafür nur zu beschimpfen wusste. “Stop it, motherfucker. Stop that shit.” Ich spielte ein wenig mit ihm. Das Gesicht hinter der Hand verstecken und dann zwischen den Fingern hervorkucken. Er lachte immer wieder lauthals, wie die Babys in den meistgesehenen Youtube Videos.

Sie blies mit düsterer Miene Haschwolken in die Luft, die dem Raum noch mehr Licht nahmen. Draussen schien die Sonne, doch ich fühlte mich unglaublich befangen. Hunderte von Familienfotos, Kruzifixe und Jesusbilder an der Wand. Irgendwann fragte sie: “Glaubst du an Gott?” Ich antwortete: “Nein.” Ihr starrer, harter Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Dann sagte sie kühl: “Ich habe Angst vor Menschen, die nicht an Gott glauben. Sie haben nichts zu befürchten.” Sie fixierte mich abermals mit ihrem Blick und sagte: “Wenn du nicht an Gott glaubst, woran glaubst du dann?

Ich überlegte eine Weile, denn ich hatte mir die Frage so nie gestellt. Ich glaubte an so viele Dinge, dass ich sie gar nie zu fassen versucht hatte. Dann antwortete ich: “Ich glaube daran, dass man Gutes tun kann, nicht nur aus Angst, sonst in die Hölle zu kommen oder bestraft zu werden. Ich glaube daran, dass man Menschen gleich behandeln sollte, wie man selbst behandelt werden möchte. Ich glaube daran, dass man manchmal aus Selbstlosigkeit handeln und damit glücklich werden kann. Ich glaube daran, dass man seine Kinder zu starken, selbstbewussten Menschen erziehen, dass man sie nie erniedrigen, sie in ihrem Tun stützen, ihnen Liebe und Geborgenheit bieten sollte, auch wenn man diese selbst nie erfahren hat.  Ich glaube daran, dass ich jeden Tag selbst entscheide, was richtig ist und dass man nicht auf dieser Welt ist, um einem vorgegebenen Weg zu folgen. Ich glaube daran, dass die Liebe zur Familie und Gott nicht an der Wand manifestiert werden kann, sondern im Herzen. Ich glaube daran, dass jeder Mensch seine individuelle Realität und Wahrheit in sich trägt und dass man diese respektieren sollte. Ich glaube daran, dass Glauben und Beten wundervoll ist, doch dass Taten noch wundervoller sind.”

Sie blies Rauch durch die Nase und sah mich weiterhin teilnahmslos an. Entgegnete dann: “Ich bete für deine verlorene Seele.” -“Ich danke dir.”

Es tat mir leid, dass ihre Vergangenheit sie zu diesem kühlen, misstrauischen Menschen gemacht hatte. Zu jemandem, der keine Perspektiven gehabt hatte und sie sich nicht schaffen konnte. Sie hatte es nicht verdient, dass man sie der Lebensfreude beraubt hatte. Es tat mir weh, dass sich der Teufelskreis mit der nächsten Generation zu schliessen schien.
Und da verstand ich, dass nur dieser Glaube ihr ein kleines bisschen Halt bieten konnte. Eine Hoffnung auf Besserung.Wir hatten uns nichts mehr zu sagen und die Zeit schien in der eindringlichen Atmosphäre stillzustehen. Bis wir gingen, und ich das Bild von ihrem süssen Jungen in meinem Herzen festhielt, sodass es mir heute noch präsent ist.

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Autor: Jelena Keller

Jelena ist von Beruf Journalistin und Sprachlehrerin, Schweizerin serbischer Abstammung. Sie mag lange Texte und langes Grübeln. Sie hat sich daran gewöhnt zu viel zu denken und zu wenig zu schlafen. Wenn sie gar kein Auge zumachen konnte sieht sie die Welt nüchtern und in einem Grauton. Wenn sie ausgeschlafen hat, wandert sie mit ihrem Hund auf grüne Berge, durch bunte Blumenwiesen und rosa Weizenfelder. Schreibt auch mal Gedichte und Kurzgeschichten, reist am liebsten um die Welt und probiert Neues aus. Sie meint tatsächlich, dass sich alle Probleme lösen liessen, wenn man sich nur ab und zu in die Lage des Gegenübers versetzen könnte. Walk in my shoes und so. Trotzdem versteht sie manche Menschen nicht. Die, die sich vor dem Leben und dem Tod fürchten und andere verurteilen. Aber von den meisten anderen denkt sie, sie seien alle Freunde, die sie bloss noch nicht kennengelernt hat.

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