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JENER UNENDLICHE OZEAN DER REALITÄT

Es kann schon sein, dass jene Menschen, die von sich behaupten, dass sie im Leben immerzu die allerstrengsten Prinzipien einhalten, zudem in jedem Fall wirkungsmächtig die schärfstmöglichen Konsequenzen ziehen würden, im Glauben leben, dies auch tatsächlich zu tun. Allein, das menschliche Innenleben ist eine Tatsachen-Verbiegungsmaschine sondergleichen.

Aber das da draussen, jenes ominöse Andere, das da heisst Realität, schert sich einen Scheissdreck um unsere Prinzipien und Konsequenzen.

Seit Menschengedenken haben die meisten Vertretenden der Spezies Homo Sapiens ja nichts anderes getan als dauernd zu versuchen, jenes ominöse Andere zu bändigen, unter verschwenderischem Einsatz von Blut, Schweiss, Tränen.

Auch heute noch werfen wir unsere Regelsysteme – Fischernetzen gleich – in den unendlichen Ozean der Realität. In der Hoffnung, ihm damit irgendwie beizukommen. Es ist nur so, dass die Turbulenzen, die in diesen mächtigen Wassern entstehen, unsere Netze zerfetzen.

Ohne Absicht. Einfach nur deshalb – weil sie halt da sind.

Denn unsere Regelsysteme sind doch bloss Produkte unserer stecknadelgrossen Köpfe, die – ach so leicht – im Heuhaufen des Lebens verloren gehen. Und nimmermehr gefunden werden.

Kaum ist so ein fein gedachtes Regelsystem auf die Welt gekommen, mag es einem einzigen Kopf oder vielen Köpfen gemeinsam entsprungen sein, wird jenes ominöse Andere da draussen seinerseits etwas produzieren, dass kein menschlicher Kopf im Voraus berücksichtigen kann.

Und dieses unerwartete Produkt des Anderen, das da draussen, im Unvermessbaren, Unberechenbaren, Unbeherrschbaren, seine Fäden spinnt, wird unserer kleines Regelsystem zerstören. Ohne jegliche Bosheit.

Einem mächtigen Staubsauger gleich, dessen Sog eine Eintagsfliege erfasst, die über meinem Himbeerkonfitürenglas schwebt, das eigentlich nicht offen auf dem Küchenfussboden stehen sollte, denke ich noch, bevor ich es mit dem Staubsaugerschlauch umstosse, in meiner Ungeschicklichkeit, die ich meinem tonnenschweren Kater verdanke, den ich mir letzte Nacht angelacht habe…

Jetzt habe ich eine weitere Sauerei zu putzen…

Aber eben; ich habe das Konfitürenglas gestern Nacht ins triumphale Finale einer – genauso betrunkenen wie ausufernd lüsternen – Küchenfussboden-Orgie einbezogen, welche ich mit einer jungen, ausserordentlich attraktiven mexikanisch-litauischen Background-Sängerin feiern durfte. Ich hatte die Dame übrigens kurz vorher an der Warenhauskasse aufgerissen, ohne Absicht; keine Ahnung, wie ich das gemacht habe. Pardon, die Herren, ich kann Ihnen diesbezüglich keine Ratschläge erteilen….

Oder vielleicht doch…

Grundsätzlich konnte sich dieses eminente nächtliche Vergnügen nur deshalb ereignen, weil ich mein Logis vorher ohne jeglichen Vorsatz verlassen hatte.

Ich habe das Warenhaus ja nur betreten, um einige Sachen einzukaufen. Harmlose Dinge des täglichen Bedarfs. Im Kopf habe ich, während ich durch die herzhaft bunte Warenwelt stromerte, lediglich versucht, einen Piano-Lick – den der fantastische Professor Longhair (Henry Roeland “Roy” Byrd (1918 – 1980)), Fess genannt, eine der grössten Musiklegenden aus New Orleans, Louisiana, einst erdacht hatte – auf das Griffbrett meiner Fender Telecaster umzumünzen.

Zudem habe ich mir noch Gedanken darüber gemacht, wie ich die Noten den Saiten mit meiner rechten Hand, ich arbeite ja mit Dreifinger-Picking oder mit dem Plektrum, je nachdem, was die Musik gerade von mir verlangt, am besten entlocken könnte.

Als mich dann in die Warteschlange vor der Warenhauskasse einreihte, war ich überzeugt davon, dass ich das Musikstück, nachdem ich daheim angelangt wäre, mühelos auf die Gitarre bringen könnte. Ich vollführe meine musikalische Kopfarbeit übrigens immer so, sei es komponieren oder arrangieren, während ich bummle, arbeite, reise, Schuhe putze, Brüste knete, Butter streiche. Ohne sie vorher zu planen.

Sie kommt einfach…

So wie die mexikanisch-litauische Background-Sängerin, im tiefsten Bauch der gestrigen Nacht, auf dem Küchenfussboden gekommen ist.

Zum dritten Mal übrigens…

Das erste der drei Ereignisse ist auf meinem nepalischen Drachenteppich eingetreten, gleich neben meinem mächtigen Bücherregal. In der Präsenz von Jacques Lacan (1901 – 1981), Joseph Roth (1894 – 1939), Samuel Beckett (1906 – 1989) und vielen anderen.

– Gewissermassen.

Aber ja, Maya Deren (1917 – 1961), Aleister Crowley (1875 – 1947) und sogar Migene González-Wippler (sie lebt noch) waren auch dabei…

Der zweite Höhepunkt hat in meiner weinroten Badewanne stattgefunden (ich habe sie einst ausgesucht, weil man den Dreck auf weinrotem Grund weniger deutlich sieht als auf weissem), die ich – bevor wir zu zweit hineingestiegen sind – mit Milch, Kahlúa und Wodka gefüllt habe, bis zum Rand. Und noch ein bisschen darüber hinaus.

Was im Badezimmer natürlich zu einer furchtbaren Überschwemmung geführt hat.

Aber wir sind ja noch gar nicht so weit, hochverehrtes Publikum – oder würden Sie es vorziehen, heute meine liebe Gemeinde zu sein?

Wir stehen ja immer noch in der Warteschlange. Vor der Warenhauskasse. Gerade habe ich in meinem Kopf das Voicing des Schlussakkords jenes Songs von Professor Longhair auf die imaginären Gitarrenseiten gelegt, da nehme ich plötzlich meine Umgebung wieder wahr.

Und stelle fest, dass meine Augen auf einem stolzen Gesäss kleben, welches da, unmittelbar vor mir, auf zwei kräftigen, nicht allzu langen aber interessanten Beinen steht. Auf dem Gesäss thront dann sogar noch ein Oberkörper. Ich sehe jenen hinteren Teil davon, den man gemeinhin Rücken nennt, welcher in diesem Falle fast gänzlich von prächtigem, geradem, von einem Damenhaupt herabfallenden, dunklem Haar verschleiert wird.

Ich stelle fest, dass diese ganze Erscheinung einen Magneteffekt auf mich ausübt. Oder vielleicht sogar einen Sonneneffekt, von der Sorte, die auch den kleinsten Sprössling dazu bewegt, als mächtiger Baum dem Himmel entgegenzuwachsen.

„Naja“, denke ich mir, „das gibt es halt hin und wieder…“ Und verknüpfe keine weiteren Erwartungen mit dem schönen Anblick, wie es mich die Realität gelehrt hat, während vielen schwierigen Jahren.

Da dreht sich dieses Haupt plötzlich um, weil die Hände, in denen die starken Arme enden, welche die Befehle des Damenhauptes – oder präziser des Gehirns, das in diesem Haupt wohnt, und in der Regel eine Farbe aufweist, die ein bisschen an Himbeerkonfitüre erinnert – normalerweise gewiss tadellos ausführen, für einen Moment versagt haben.

Ein Glücksfall für mich. Wie sich etwas später herausstellen wird…

Eine Packung Vollkorn-Toastbrot ist mir nämlich gerade vor die Füsse gefallen. Die Dame vor mir wollte sie wohl aufs Kassenförderband legen, hat sie aber stattdessen eben direkt vor meine Füsse fallen lassen, die in wohlfeilen Alligatorenleder-Halbschuhen stecken.

Deshalb hat sich das Haupt zu mir umgedreht.

Plötzlich sehen mich zwei tiefe dunkle Augen an. Zwei Revolverläufen gleich, die jeden Alltag ohne weiteres in Stücke schiessen können. Ich bücke mich, stelle fest, dass mein Antlitz sich dabei dem stolzen Hinterteil nähert. Und registriere, dass anhand dieser Tatsache gar kein schlechtes Gefühl aufkommen will. Ganz im Gegenteil.

Ich hebe die Packung blitzschnell auf, bringe sie in die Höhe, lege sie aufs Förderband und registriere nun einen freundlichen ungeschminkten Mund, der mich anlächelt – und urplötzlich Worte formt: „Dankeschön. Coole Schuhe übrigens. Und Ihr Hut gefällt mir auch. Sind Sie ein Musiker?“ Das fragen mich die Einwanderungsoffiziere auch immer, wenn ich in die USA einreise, denn ich trage täglich Rock’n’Roll-Schuhe und einen Blues-Brothers-Hut, den man übrigens auch Fedora nennt. Aber die Offiziere stellen diese Frage mit einem anderen Ton in der Stimme – als diese interessante Dame es tut.

Ich sage „ja“. Und die Augen schauen mich nun sogar so richtig freundlich an.

„Ich mache auch Musik“, sagt der umgeschminkte aber wohlgestalte Mund. Es entsteht eine Unterhaltung. Die Dame kann gut schwatzen. Ich auch. Wenn ich inspiriert bin. Und ich stelle fest, dass ich gerade sehr inspiriert bin. Das Gespräch ist in der Tat so angenehm, dass es alsbald in einem Café weitergeführt wird. Schau an, die Lady interessiert sich auch für Rhythm&Blues. Die New Orleans-Variante dieser herrlichen Musikform kennt sie aber noch nicht so gut. Sie kennt bisher nur Dr. John Mac Rebennack, den sie super findet, und möchte gerne noch mehr über die Big-Easy-Ausformung des Genres wissen. Ich erzähle ihr also von Professor Longhair und vom Song, den ich im Warenhaus gerade mental auf meine Gitarre übertragen habe.

Sie will ihn unbedingt hören. Und schon sitzen wir bei mir zuhause. Im Wohnzimmer. Wir trinken White Russians, rauchen einen Joint nach dem anderen. Ich spiele ihr den Song vor, plötzlich singen wir zusammen: „I got fire can’t put it out…“ – und so weiter…

Sodann hebt unvermittelt, ohne jegliche vorherige Absprache, ein Reigen der Ausschweifungen an, wie ihn sich der Marquis de Sade (1740 – 1814) nicht durchgeknallter hätte ausdenken können. Begleitet von einem wunderbaren Schwall dreckiger Worte.

Draussen wird es dunkel – und die Nacht vergeht im Wahn.

Meine Walfischknochensammlung, Teile meiner Fender Telecaster, das Vollkorntoastbrot und allerlei andere Gegenstände sowie Lebensmittel werden in den grandios obszönen Reigen einbezogen. Nebst der weiter oben erwähnten Himbeerkonfitüre.

Den Schluss der Geschichte können Sie sich nun aussuchen. Aus folgenden zwei Optionen:

Nummer eins:

Ich wache am spääääten Nachmittag auf dem Küchenboden auf. Die Lady ist weg. Aber auch meine Geldbörse sowie alle Moneten und Drogen, die ich in meinem Logis rumliegen hatte. Trotzdem bin ich der Realität dankbar dafür, dass sie mich in diese Nacht hineingestossen hat.

Nummer zwei:

Ich habe die Lady nach einiger Zeit, die wie im Traum vergangen ist, geheiratet. Und dann ist das Drama losgegangen. Ich habe sie von ihrer schlimmsten Seite kennengelernt. Und sie mich von meiner. An einem bösen Tag hat sie mir dann ein Fleischermesser zwischen die Rippen gestossen. Heute liege ich in einem Armengrab. Auf dem Friedhof meiner schönen Heimatstadt.

In beiden Fällen habe ich den Ausgang der Geschichte nicht geplant. Und der Gang der Dinge ist auch keinem Regelsystem entsprungen, das von menschlichen Stecknadelköpfen geformt worden wäre. Vielmehr hat jenes ominöse Andere wieder einmal zugeschlagen. Jawohl, die Ereignisse, die mein Leben gestalten – oder halt gestaltet haben -, wurden geboren in jenem unendlichen Ozean, der da heisst: Realität.

Und diese Ereignisse haben sich keineswegs wie konsequente Ausführungen von Prinzipien angefühlt. Sondern wie ein langes, unberechenbares, wunderschön melancholisches Musikstück, das da weht, gleichsam wie ein Sturmwind. Über jenen endlosen, unberechenbaren Wassern des Seins.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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