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Und was hast du so?

Eduardo Paolozzi - Living in a materialistic world

Kennt ihr das, wenn ihr nach vielen Jahren wieder einmal Bekannte oder alte Freunde trefft. Sei es an einem Klassentreffen, an einem Geburtstag oder sonst einer Veranstaltung. Automatisch fühlt man sich zu denen hingezogen, welche man früher gut kannte. Man freut sich anfangs, mustert natürlich, ist gespannt auf die Lebensgeschichten. Voller Erwartungen lässt man sie reden. Und sie erzählen vom gleichen Job wie vor zehn Jahren, manche haben zusätzliche Kurse besucht und dürfen nun Lehrlinge ausbilden, manche haben die Berufsgattung gewechselt. Dann erzählen sie vom Auto, es sei nicht mehr der alte Punto, sondern ein Audi, von der Eigentumswohnung und der neuen Einrichtung. Dann noch wie toll die teure Hochzeit mit 300 Leuten war. Natürlich auch der freudig entgegengestreckte Diamantring. Manchmal von Nachtklubs, in denen man zusammen vor ebenfalls fünfzehn Jahren abhing. Man hat den Eindruck, dass ihre Jugend viel interessanter war als ihr Jetzt. Manchmal sprechen sie noch über die Familie. Sehr gerne über andere Leute. Doch meist handelt es sich um Dinge. Um Besitz.

Dann fragen sie: „Und was machst du so?“ Aber eigentlich wollen sie sagen: „Und was hast du so?”
Ich antworte: „Nichts, ich besitze nichts dergleichen. Ich habe kein Auto, ich habe keine Wohnung. Ich habe nur einen Hund und ein paar Bücher.” Sie schauen ganz verdutzt und mitleidig, denken, ich hätte mein Leben vergeudet. Sie klopfen sich in Gedanken auf die Schulter und sagen: ” Puuh. Zum Glück habe ich gespart, immer schön gearbeitet, war nie in finanziellen Schwierigkeiten, habe mein Leben geplant und erfolgreich gemeistert.“
Ich erzähle dann von ständig wechselnden Hobbies, vom Studium, von den vielen verschiedenen Jobs, vom Nichtstun, von der Liebe, den Trieben, dem Nahtod, den gefährlichen Situationen, der Mittellosigkeit, der Verzweiflung, der Umorientierung, den Fehlern, den Begegnungen mit vielen Menschen, dem steten streben nach Wissen und dem Leben als jemand, der alles anfängt und nichts beendet.
Sie schauen zuerst fassungslos, dann fragend. Zu gerne hätten sie sich mit mir über etwas Anderes unterhalten. Sie denken, meine vielen Jahre seien einfach verpufft, nichts hätte ich mir aufgebaut. Welch verantwortungsloses Verhalten. Ich sei doch schon immer so eine gewesen. Eine mit dem Kopf in den Wolken. Eine, die sich nicht verändert hat in all den Jahren. Ich sehe ihnen ihre Gedanken an, doch ich lächle.
Wie manch einer, weiss ich, was es heisst krank zu sein, davon zu träumen, im Sonnenschein schwimmen zu gehen. In der Einsamkeit des dunklen Zimmers fast zu verzweifeln. Ich weiss, was es heisst, keinen Job zu haben, zu dem man mit dem Audi hinfahren könnte, wenn einen Existenzängste quälen. Ich weiss, was es heisst, einen geliebten Menschen zu verlieren. In solch düsteren Zeiten hatte ich mir noch nie eine schönere Wohnung oder ein besseres Auto gewünscht, denn helfen, hätten sie mir sowieso nicht können.
In schwarzen Momenten mache ich die Augen zu und denke an all die schönen Reisen, die Lacher mit Freunden, Meeresbrisen mit Wind im Haar, das Kribbeln im Bauch in unvorhergesehenen Situationen und dem Gefühl, das Glück sei für die Ewigkeit an meiner Seite. Dies gibt mir die Gewissheit, dass das Leben absolut wundervoll sein kann und dass ich Schwierigeres überstanden habe. Meine Erinnerungen, Risikobereitschaft und wenig materieller Besitz geben mir Freiheit und Unabhängigkeit.  Ich fühle mich sicher im Leben, man kann mir nichts wegnehmen, denn um glücklich zu sein, brauchte ich nur mich und meine Gedanken.
Dann frage ich: “Was ist deine Leidenschaft?” Und sie wissen das erste Mal keine Antwort.

Ich lächle, denn ich weiss, der Audi lässt sich nicht ins Grab nehmen. Meine Erfahrungen allerdings, begleiten mich überall hin.

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Autor: Jelena Keller

Jelena ist von Beruf Journalistin und Sprachlehrerin, Schweizerin serbischer Abstammung. Sie mag lange Texte und langes Grübeln. Sie hat sich daran gewöhnt zu viel zu denken und zu wenig zu schlafen. Wenn sie gar kein Auge zumachen konnte sieht sie die Welt nüchtern und in einem Grauton. Wenn sie ausgeschlafen hat, wandert sie mit ihrem Hund auf grüne Berge, durch bunte Blumenwiesen und rosa Weizenfelder. Schreibt auch mal Gedichte und Kurzgeschichten, reist am liebsten um die Welt und probiert Neues aus. Sie meint tatsächlich, dass sich alle Probleme lösen liessen, wenn man sich nur ab und zu in die Lage des Gegenübers versetzen könnte. Walk in my shoes und so. Trotzdem versteht sie manche Menschen nicht. Die, die sich vor dem Leben und dem Tod fürchten und andere verurteilen. Aber von den meisten anderen denkt sie, sie seien alle Freunde, die sie bloss noch nicht kennengelernt hat.

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