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Bildungskomplex-Kreislauf (Eine Geschichte für Secondos)

© Sammlung Richter/Cinetext „Das Dorf der Verdammten“ (1960)

 

-Befasst man sich mit Bildung, so befasst man sich auch immer mit den eigenen Komplexen und denen der Eltern –

 

Lassen Sie mich zuerst einen Ausschnitt meiner Familiengeschichte erzählen. Es ist nämlich ein Teil meines Lebens, in dem sich einige Secondos wiederfinden werden.

Meine Mutter studierte in Belgrad Rechtswissenschaften, schloss jedoch, kurz vor der Zielgeraden, nicht ab. Natürlich konnte diese lebenswichtige Entscheidung plausibel so erklärt werden, dass es mit dem damaligen Jugoslawien bergab ging. Dass sie uns eine bessere Zukunft im Ausland bieten wollte, dass sowieso alles für die Katz gewesen wäre und dass man in den wohlhabenderen Ländern mit diesem Jus-Diplom sowieso nichts hätte anfangen können. Sie habe ja Medizin studieren wollen, aber ihr Bruder hätte sie zu diesem langweiligen, gehirnzermürbenden, nichtsnutzigen Studium gezwungen. Unser Leben hätte so viel besser verlaufen können. Aber nein, stattdessen musste sie in den Achtzigern Hotelzimmer putzen. Mein Vater, ein Verlagshaus-Direktor und Journalist, Stühle restaurieren. Saisonweise versteht sich. Sechs Monate schuften, dann raus aus dem Land bis zum nächsten Winter in Davos. Ich bewundere meine Eltern für ihren Mut, ihre Ausdauer und eine Unerschrockenheit, die ich mir wünschte in meinem Leben erfahren zu haben. Später, in Zürich angekommen, gründete mein Vater eine Parkett Firma, meine Mutter briet Hamburger, bis sie sich nach Jahren zur Buchhalterin hocharbeiten konnte. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie erniedrigend es für sie gewesen sein muss, ihr Wissen und Können, ihre Leidenschaften und intellektuellen Bedürfnisse, ihre Träume und Ambitionen für ein paar Franken zu verkaufen. Sie kamen aus dem Kommunismus, einer ideologischen Welt, die zwar behauptet zwischen Mensch und Mensch keinen Unterschied zu kennen, doch sehr wohl unterschied, wenn es um die Frage der Bildung und Berufung ging. Erfolg oder Misserfolg konnte schwer durch materialistische Werte definiert werden, so blieb nur die Möglichkeit durch akademische Leistung oder anderes aussergewöhnliches Können zu brillieren, um sich so zu unterscheiden von anderen und eventuell sogar einmal aus dem Land raus zu kommen. Ich behaupte ja, dass die Sowjets nur deshalb so lange bei den Olympischen Spielen abräumten, weil sie es kaum erwarten konnten, dem Kommunismus zu entfliehen, in die Weite Welt hinaus. Natürlich trug der Staat auch seinen Teil zum Erfolg bei, indem er Sport förderte.

Nun können viele Einwanderer bis heute nicht ihrer Berufung nachgehen, verlieren sich im Aufbau einer Existenz, bekommen zu früh Kinder oder wanderten bereits mit den Kindern ein. Die Sprachschwierigkeiten haben es ebenfalls in sich und verlangen Zeit sowie Mühen ab. Sie sitzen dann abends todmüde auf dem Sofa, um Gott oder wem auch immer zu danken, dass ihre Kinder eine bessere Zukunft haben werden. Sie beten dafür, dass ihre Kinder Studien abschliessen, in einem Land, in dem es sich zu arbeiten lohnt. Man beachte, dass ein Jurist in Serbien heute im Durchschnitt 350 Euro verdient. Solche Tatsachen machen diesen Wunsch durchaus nachvollziehbar.

Die Kinder, verständnisvoll für die intellektuellen Einbussen der Eltern, nehmen sich vor, gut in der Schule zu sein und die Wünsche der derer zu erfüllen. Als hätten wir nicht alle unsere Eltern stolz machen wollen. Stolz bedeutet elterliche Liebe, Anerkennung bedeutet Liebe.

Die Secondos sehen auch, wie unzufrieden ihre Eltern, wie sie überfordert sind von der Unterforderung. Wie sie sich solch eine Zukunft, damals, in der erwartungsvollen Aufbruchsstimmung, niemals hätten vorstellen können. Ihre tiefe Trauer um ein Leben und darum, wie es schöner hätte sein können. Die leidenden Eltern hatten schon lange einen Bildungskomplex entwickelt. Ein aus Beschämung entstandenes Minderwertigkeitsgefühl. Es schreit immerzu nach Beweisen dafür, dass man nicht so ist, wie Leute, denen diese Art der Arbeit eigentlich zusteht. In der Freizeit liest man viel, um gedanklich nicht zu verkümmern, versucht dann mit Mitarbeitern über Artikel im „Tagesanzeiger“ zu diskutieren, doch der Tamile, der gerade aus dem Bürgerkrieg kam und nur mit Mühe lesen kann, entgegnet nicht viel. Wenigstens lacht er und ist sonst immer aufgestellt. Die Eltern wollen so glücklich sein wie er, doch es gelingt ihnen nicht. Sie denken zu viel, arbeiten zu viel, doch zu wenig mit Liebe und Leidenschaft. Sie fühlen sich schäbig, denn der Chef, der sie anschreit, ist Metzger von Beruf. Genauso wie er auf dem Fleisch herumgehackt hat, so hackt er auf ihnen herum. Sie finden Metzger zwar ehrenwert, doch unter ihnen eingestuft zu werden, schmerzt dann doch sehr arg. Es entsteht ein Komplex, den die ganze Familie zu spüren bekommt. Das Minderwertigkeitsgefühl verlangt den Kindern viel ab. Eltern schreien beim Nachwuchs nach mehr Bildung, nach guten Abschlüssen, nach Interessen, nach Instrumenten, Literatur, Geschichte, Philosophie, Naturwissenschaften, Kunst, Politik, Engagement, Aufopferung für die Schule und Zielstrebigkeit. Alles was sie damals in der Schule erfuhren, was sie so geprägt hatte. Sie wollen dass wir Sport machen, Kampfgeist zeigen, Bücher lesen und Gedichte aufsagen.

Die Kinder werden schon mal als Kulturbanausen, engstirnige Vollidioten, Ungebildete und Desinteressierte bezeichnet, gerade weil sich die Eltern selbst so fühlen und dies auf die Nachkömmlinge projizieren. Natürlich gab es das schon, dass das Kind dadurch einen unbändigen Ehrgeiz entwickelte und den Doktortitel nachhause tragen durfte. Doch oftmals ist das Verhalten der Eltern ein destruktiver Ansporn und führt dazu, dass das Kind rebelliert, die Ideale der Eltern nicht versteht und gerade deshalb den entgegengesetzten Weg einschlägt. Secondo Eltern mit Minderwertigkeitskomplex sagen nicht: Ich liebe dich, ich verstehe dich und will einfach, dass du glücklich bist, mach im Leben was du möchtest. Nein, diese Eltern wollen, dass wir ein Instrument spielen, sodass sie sich besser fühlen, wenn Besuch kommt und das Kind gerade „für Elise“ gelernt hat. Wenn wir vorspielen, leuchten ihre Augen, denn all die Mühe muss sich endlich gelohnt haben. Wenigstens ist das Kind auf dem richtigen Weg und macht nicht die ganze Familie zur Arbeiterklasse. Der soziale Abstieg wurde nie Überwunden, die Rettung naht mit den Kindern. Die Verantwortung für Ihr Leben hatten sie mit der Geburt der Babys abgegeben. Zu anstrengend ist es, sich noch weiterzubilden, man hatte ja arbeiten, die Familie versorgen müssen. Ausserdem nagt der tiefe Lohn an einem und die stete Angst, seinen Job zu verlieren. Man sei eben nur ersetzbarer Ausländer. Diese tiefsitzende Angst erklärt auch, wieso sie sich noch heute unter ihrem Wert verkaufen. Kopf einziehen und bloss den Job behalten. Die Kinder werden dann alles besser machen. Das grosse Hoffen.

Dabei entgeht ihnen, dass niemand Zeit hat, um uns zu fördern. Die Eltern ständig bei der Arbeit, die Kinder besorgt um Haushalt, Geschwister, die Sorgen und Frustrationen der Eltern. Wo bleibt da Zeit herauszufinden was wir wirklich brauchen, wer wir sind und was wir wollen?

Auch, dass das Umfeld, welches uns beeinflusst, nun ganz anders aussieht, als das im sozialistischen Tito-Staat. Die neue Generation in der Schweiz verlangt nicht zwingend nach Abgrenzung und Hervorhebung. Sie verlangt nicht danach, Schachweltmeister, Tennis-Profi oder Mathematik-Genie zu werden. Wir wachsen in einer Umgebung auf, in der fast niemand ein Instrument spielt oder sich für intellektuelle Tätigkeiten interessiert. Wie sollen wir die Anforderungen der Eltern nachvollziehen können, wenn das Umfeld nicht mitspielt? Schliesslich leben Interessen mitunter vom regen Austausch.

Nun war es bei besagten kommunistischen Eltern so, dass alle uneingeschränkten Zugang zu Bildung und Kultur hatten und niemand für den Kapitalismus schon mit 16 schuften musste. Also gehen sie davon aus, dass wir die gleichen Ambitionen in uns tragen und verstehen nicht, dass unser Werdegang, entscheiden wir uns nun doch für die typische KV-Lehre, nicht mit dem ihren zu vergleichen ist. Wir, wie alle Menschen, finden unsere Vorbilder in der näheren Umgebung. Sprechen nun in der Sekundarschule alle von der Geldmacherei und der Unabhängigkeit, so wollen wir das Gleiche. Bis wir merken, dass uns das Sachbearbeiten doch nicht erfüllt, dass das Geld gar nicht so wahnsinnig gut ist und dass man im Leben noch ein wenig mehr lernen sollte, ganz einfach weil es erfüllt und zu Leidenschaft im Beruf führen kann. Denn nur wer leidenschaftlich arbeitet, fühlt die Müdigkeit im Alltag nicht. Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten. (Konfuzius)

Manche schaffen es ihren Arbeitstraum noch nach der Lehre zu erfüllen, manche nicht. Manche stecken schon zu tief im kapitalistischen Sumpf, im Rechnungszahler-Kreislauf, haben das Selbstvertrauen verloren oder schon Kinder, die sie ernähren müssen. Und wieder wird die Verantwortung für das eigene Leben  mit dem beginn des Kinderlebens abgegeben. Sie werden dann alles besser machen. Das grosse Hoffen.

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Autor: Jelena Keller

Jelena ist von Beruf Journalistin und Sprachlehrerin, Schweizerin serbischer Abstammung. Sie mag lange Texte und langes Grübeln. Sie hat sich daran gewöhnt zu viel zu denken und zu wenig zu schlafen. Wenn sie gar kein Auge zumachen konnte sieht sie die Welt nüchtern und in einem Grauton. Wenn sie ausgeschlafen hat, wandert sie mit ihrem Hund auf grüne Berge, durch bunte Blumenwiesen und rosa Weizenfelder. Schreibt auch mal Gedichte und Kurzgeschichten, reist am liebsten um die Welt und probiert Neues aus. Sie meint tatsächlich, dass sich alle Probleme lösen liessen, wenn man sich nur ab und zu in die Lage des Gegenübers versetzen könnte. Walk in my shoes und so. Trotzdem versteht sie manche Menschen nicht. Die, die sich vor dem Leben und dem Tod fürchten und andere verurteilen. Aber von den meisten anderen denkt sie, sie seien alle Freunde, die sie bloss noch nicht kennengelernt hat.

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