Hätten meine Erwartungen an eine firmeninterne Weihnachtsparty bestätigt, so hätten wir nach unzähligen Shots-Runden und Wahrheit oder Pflicht-Spielen, auf den Tischen getanzt. Hätten auf die Teppichböden gekotzt, unsere Vorgesetzten umarmt, hemmungslos allen Frauen in Röcken auf den Arsch geklatscht. Den Teamleader lullend um eine Gehaltserhöhung gebeten und ihm bei ablehnender Haltung endlich „Schwanzlutscher!“ zugerufen, um ihm dann fadengerade eine Ohrfeige ins Gesicht geschmettert. Wir hätten unserer heimlichen Büro-Affäre die Liebe gestanden, verschwitzt zu Jingle Bells-Remixes vulgäre Twerk-Moves ausprobiert. Der eine oder andere hätte sich das Hemd vom Leib gerissen, denkend, seine Brustbehaarung mache ihn automatisch zum König der Löwen, dabei brüllend die kleinen Gourmet-Hamburger wie eine Gazelle gerissen, dann eine grausig aggressive Essens-Schlacht gestartet. Mancher hätte im WC mit der Praktikantin gepoppt, woraus eine leichtsinnige, gesetzwidrige Liaison entstanden wäre. Einer wäre verschwunden und erst nach einer Woche mit einer Niere weniger in Minsk aufgewacht.
Es hätte so werden können, wären wir Menschen, die sonst nie sein dürfen, wie sie gerne wären.
So sitzen wir an einem Dienstag Abend in der Blauen Ente. Diskutierend, lachend, bald ein wenig lallend, ein wenig schreiend und sind dabei nichts weiter als Menschen, die die Gesellschaft ihrer Mitarbeiter geniessen, weil ihnen schlicht keine andere Wahl gelassen wird. Weil es keine Tabus zu brechen, kein Selbstwertgefühl zu stärken gibt. Weil wir gemeinsam an einem Strang ziehen. Weil Individualität keine Rivalität zulässt. Weil Gehaltserhöhungen nicht möglich sind. Weil jederzeit Grenzen überschritten werden dürfen. Weil Umarmungen an der Tagesordnung sind. Weil Sprücheklopfer, die unter die Gürtellinie zielen akzeptiert sind. Weil Ideen angehört werden. Weil Exzesse jederzeit erlaubt sind. Weil Andersartigkeit zelebriert wird. Weil wir hier immer sind, wer wir sein wollen – nicht nur einmal im Jahr am Weihnachtsessen. Weil wir alles dürfen und nichts müssen. Deshalb sitzen wir hier und sehen dabei aus aus wie Freunde.
Doch sind wir ausserhalb dieser kleinen Welt jeder anderen angepassten Gesellschaft gleich. Uns gerade deshalb im gesetzlosen KULT-Mikrokosmos so wohlfühlen. Auch wir liegen unter der Woche, zwar besoffen, doch spätestens um 2.00 Uhr im Bett, wenn morgen die ernüchternde Alltagswelt wartet.
Weil wir doch gar nicht so anders, bloss von der Sorte sind, die zu Papier bringen können was andere manchmal denken.
Weil auch wir, nichts weiter sind – als das gewöhnliche Leben.