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Wer willst du sein?

Es gibt Menschen, die weinen gerade um ihre verstorbenen Eltern. Kinder, die weinen, weil ihre aufgeblähten Hungerbäuche schmerzen, ihre ausgemerzten Körper merken, dass sie kurz vor dem Tode stehen. Andere laufen mit amputierten Gliedmassen in Palästina herum, sehen ihren Freunden beim Verbluten zu. Manche Erwachsenen weinen gerade, weil sie sich scheiden lassen und ihr ganzes Dasein auseinander gerissen wird. Ein Aktienhändler steht davor vom Hochhaus zu springen, weil er an der Börse sein Vermögen verloren hat. Ein Junges Mädchen weint bitter, denn es wird zum 31. Mal von ihrem Verwandten vergewaltigt. Ein Junge wird von der Mutter geschlagen bis er blutet. Ein wohlhabender Teenager schreit um die Kreditkarte seines Vaters, die ihm gerade entzogen wurde. Eine Mutter verliert ihr Kind bei der Entbindung. Eine Verliebte schluchzt, denn sie wurde nun zum vierten Mal betrogen. Ein Heroinabhängiger verzweifelt, weil er  schon wieder nicht widerstehen konnte. Ein Vietnam-Überlebender seufzt, als ihm seine im Graben liegende Mutter in den Sinn kommt. Im Krankenhaus kotzt einer nach der Chemo. Ein übergewichtiges Kind liest im Internet nach, wie man sich am schnellsten umbringt.

Welch ungeheurer Vergleich, werdet ihr euch denken. Diese ganz unterschiedlichen Situationen in einen Topf zu werfen. Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Natürlich,  ein kategorisierendes Gehirn wird klar von schwereren, mittelschweren und leichten Schicksalsschlägen unterscheiden können. Ein betroffenes Individuum allerdings, schafft es nicht zu differenzieren. Für jede einzelne dieser Personen, scheint ihr Erlebnis, ihre Vergangenheit, ihre Geschichte, ihr unmittelbares Leid, das Schrecklichste und Schmerzhafteste dieser Welt zu sein.

Alle diese Menschen, wie auch wir, tragen unseren Rucksack voller belastender Momente und Erlebnisse mit uns. Leid, Schmerz, Ablehnung, Trauer, Wut, Selbstmitleid, Selbstzerstörung, Zweifel, Dunkelheit und Depression. Alle Menschen dieser Welt teilen diese Gefühle. Egal ob sie nun von schweren oder mittelschweren Schicksalen geprägt wurden. Für uns waren schwierige Momente immer von der schwersten Sorte, solange wir sie nicht zu überwinden lernten.

Ich erinnere mich an spezielle Begegnungen, die mich inspiriert haben. An einen Holocaust-Überlbenden, der strahlte aus vollster Überzeugung. An Frauen, die jahrelang vergewaltigt wurden und trotzdem zurück ins Leben fanden, Familien gründeten. An Depressive, die die Medikamente wegwarfen und sich ihrem Leben stellten. An einen ehemaligen Platzspitz-Drögler, der heute eine IT-Firma leitet. Sie inspirierten mich mit ihren Geschichten vom Leid aber auch vom Überleben und dem wundervollen Dasein danach. Von den ewig im gleichen Sumpf hockenden trennte ich mich irgendwann, weil ihre Verbissenheit kein Licht am Ende des Tunnels zuliess. Ich trennte mich von ihnen, genauso wie ich mich von meinem eigenen, inneren Jammerlappen trennte. Er hatte mir zu viel der wertvollen Zeit auf dieser Welt geraubt. Ich hatte mich zu lange darauf konzentriert, was ich nicht hatte und vergass dabei, was ich eigentlich alles hatte.

Menschen die später trotzdem glücklich wurden verbinden grosse Fragen: Wer will ich sein? Möchte ich jemand sein, der als Opfer, als miserabler Mensch und ewig Unglücklicher wahrgenommen wird? Oder möchte ich jemand sein, der seine Geschichte zwar erzählt, doch damit kein Mitleid ernten, sondern andere inspirieren will? Möchte ich aufhören meine Kinder mit meinen Problemen zu belasten? Möchte ich endlich etwas anderes versuchen, wenn all meine Versuche bis anhin gescheitert sind? Möchte ich mich befreien, endlich loslassen? Möchte ich ab heute verdammt nochmals ein anderes Leben leben? Oder will ich bis zu meinem Tode von der Vergangenheit bestimmt werden? Wie will ich mich sehen? Was will ich in diesem lebenswerten Leben noch erleben? Bin ich bereit mich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen, um sie dann hinter mir zu lassen? Will ich endlich alles hinter mich bringen oder bin ich noch nicht bereit dazu? Bin ich bereit die nötigen Schritte zu unternehmen, damit es mir besser geht? Wer will ich sein? Ich habe die Wahl.

Man darf sich eingestehen, dass man ein Opfer war. Sich die Zeit nehmen um zu Trauern, in Selbstmitleid zu versinken, sich nicht beantwortbare Fragen zu stellen, zu fühlen und in der Dunkelheit zu leiden. Irgendwann aber entscheidet jeder, ob er Opfer bleiben möchte oder weiterzieht in eine besser Zukunft.

Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Genauso wenig wie die Menschen darin und unser Umfeld. Die Gegebenheiten um uns herum werden sie niemals zu unseren Gunsten ändern. Niemals. Darauf zu hoffen ist ein sinnloses Unterfangen, das uns nur zum Verhängnis wird und uns noch tiefer in den schwarzen Sog zieht. Wir können nichts ausser uns selbst ändern. Unsere Gedanken und wie wir mit Erlebtem umgehen. Wir haben die Wahl.

Die Befreiung braucht Arbeit. Ich sage nicht, es wird einfach, ich sage nicht, es geht von heute auf morgen. Doch ich sage: Es gibt Menschen, die es trotz allem geschafft haben. Und: Es wird mit der Zeit besser – irgendwann hört es auf zu schmerzen. Versprochen. Du musst nur heute beschliessen, dass du so nicht weitermachen möchtest.

– Wer willst du ab heute sein? –

 

 

(Bei Interesse für Traumabewältigung, Therapiemöglichkeiten und Lebensberatung gebe ich gerne Tipps. Bitte auf Facebook per Privatnachricht)

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Autor: Jelena Keller

Jelena ist von Beruf Journalistin und Sprachlehrerin, Schweizerin serbischer Abstammung. Sie mag lange Texte und langes Grübeln. Sie hat sich daran gewöhnt zu viel zu denken und zu wenig zu schlafen. Wenn sie gar kein Auge zumachen konnte sieht sie die Welt nüchtern und in einem Grauton. Wenn sie ausgeschlafen hat, wandert sie mit ihrem Hund auf grüne Berge, durch bunte Blumenwiesen und rosa Weizenfelder. Schreibt auch mal Gedichte und Kurzgeschichten, reist am liebsten um die Welt und probiert Neues aus. Sie meint tatsächlich, dass sich alle Probleme lösen liessen, wenn man sich nur ab und zu in die Lage des Gegenübers versetzen könnte. Walk in my shoes und so. Trotzdem versteht sie manche Menschen nicht. Die, die sich vor dem Leben und dem Tod fürchten und andere verurteilen. Aber von den meisten anderen denkt sie, sie seien alle Freunde, die sie bloss noch nicht kennengelernt hat.

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