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Die besten Lektionen über das Leben

Die besten Lektionen über das Leben lernt man von Sterbenden.

Von Menschen, die eines Teils ihrer Zeit hier beraubt wurden. Ich persönlich glaube nicht, dass «es halt ihre/seine Zeit war» oder dass irgend ein karmischer Ziegenbock im Himalaya (o.ä. Gottheit) darüber entscheidet, dass es nun zu Ende gehen soll. Falls das doch so ist, möge er/sie/es mir bitte Kinder mit akuter Leukämie und den ganzen anderen miesen Bullshit auf der Welt erklären – und «Gottes Wege sind unergründlich» zählt nicht. Ich gehe auch nicht auf der Strasse irgendwen abmurksen und sage dann vor Gericht «Meine Wege sind halt unergründlich» und alle nicken und lächeln und ich werde freigesprochen und gehe zu Starbucks und hole mir einen Eppeeri-Frappuccino.

Wenn ich also sage, Leute, die jung sterben, seien eines Teils ihrer Zeit beraubt worden, dann meine ich das auch so. Nichts an einem jungen, vielleicht leidvollen Tod ist gut – und trotzdem trägt (oft, nicht immer) niemand die Verantwortung dafür. Da mutieren per Zufall ein paar Zellen und dann noch mehr und noch mehr und dann frisst einen der eigene Körper sozusagen von innen auf. Dann kotzt man seine Lunge raus oder das eigene Blut wird schwarz. Wenn es eine Gottheit gibt, die das so absichtlich und willentlich geplant hat, finde ich ihn/sie/es ein Arschloch, «unergründlich» hin oder her. Sorry.

Aber diese Kolumne soll nicht von meiner Wut auf ein in meinen Augen inexistentes, spirituelles Wesen handeln. Energie an etwas zu verschwenden, an das man nicht glaubt, wäre auch eine ziemliche Zeitverschwendung, wenn wir mal ehrlich sind.

Die besten Lektionen über das Leben lernt man von Sterbenden.

Es ist, wie das alte Sprichwort sagt: Erst, wenn man etwas verliert, weiss man, wie wertvoll es war. Erst, wenn unser Leben uns zwischen den Fingern zerrinnt, merken wir, wie kostbar und schön es ist.

(Viele, nicht alle) Sterbende leben und lieben intensiv. Als ob es kein morgen gäbe – weil es eben manchmal tatsächlich keines mehr gibt. Sterbende sagen, was sie fühlen. «Ich liebe dich», sagen sie und «Du bist schön». Stolz nimmt auf dem Rücksitz Platz, während Liebe und Wohlwollen sich ans Steuer setzen.

Das gleiche passiert mit den Menschen um den Sterbenden herum. Man sieht sich konfrontiert mit einem der brachialsten Ereignisse im Leben: Dem Verlust eines/r Lieben, dem zurechtkommen Müssen mit einer neuen Realität, dem Tod. Wir haben andere Werte, andere Ziele, wenn uns jemand langsam entgleitet. Es geht nicht mehr um das Ich, sondern ums Du und ums Wir. Man fasst den anderen wieder öfter an, man streichelt sich – Scham ist fehlplatziert. Man sagt sich Dinge, die man seit Monaten, ja Jahren, mit sich herumträgt. Und man vergibt sich.

Vielleicht ist ja das Leben selbst unsere Lebensaufgabe. Was hält uns davonab, uns zu sagen, was wir denken, uns zu lieben, uns zu streicheln, uns zu vergeben – ohne einander dann loslassen zu müssen? Nichts.

Die besten Lektionen über das Leben lernt man von Sterbenden.

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Autor: Yonni Meyer

Yonni Meyer (*1982) wuchs dort auf, wo’s mehr Kühe als Menschen gibt. Und das war gut so. Kantonsschule in der Nordschweizer Provinz (Hopp Schafuuse). Studium im Welschland (Sprachen und Psychologie). Umzug an die Zürcher Langstrasse 2011. Seither konstant kulturgeschockt. Ende Juli 2013 Geburt des Facebook-Blogs „Pony M.“
September 2013 Einstieg bei KULT. Ab 2014 Aufbruch in die freelancerische Text-Landschaft der Schweiz. Meyer mag Blues. Meyer mag Kalifornien. Meyer mag Igel. Meyer mag Menschen. Manchmal.

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