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Fussgänger, die einfältigsten Verkehrsteilnehmer der Welt

Seit Menschengedenken gehen wir zu Fuss – wenn sich keine Alternative bietet. Zugegeben: Per pedes unterwegs zu sein ist gesund. Allerdings gleichzeitig auch etwas vom Tödlichsten überhaupt. 2011 etwa kamen weltweit 1,24 Millionen Menschen an den Folgen eines Verkehrsunfalles ums Leben (3400 pro Tag), davon ein Viertel Fussgänger. 270’000 (!) von ihnen starben beim Überqueren einer Strasse.

Das entspricht sämtlichen Einwohnern von Venedig. Oder Strassburg. Oder Dresden. Eine stattliche Zahl, nicht wahr? Zugegeben: Diese Statistik erfasst im Giesskannenprinzip den gesamten Globus, und es gibt natürlich geografisch starke Unterschiede, wenn man die Wahrscheinlichkeit betrachtet, an einem Kühlergrill zu enden. In Niue beispielsweise, einer isolierten Koralleninsel im Südpazifik in der Nähe von Tonga, 2400 km nordöstlich von Neuseeland, sterben auf 100’000 Einwohner gerechnet beinahe 70 Zeitgenossen im Strassenverkehr. In der Schweiz sind es lediglich 4,3. Und hier scheint der durchschnittliche Fussgänger sein weiteres Interesse an Statistiken zu verlieren. «Ha! Was soll ich mich da sorgen! Die Chance, dass es genau mich erw…» ZACK! Tot. Plattgefahren auf einem Zebrastreifen. Blutrot mischt sich mit Leuchtgelb und Asphaltgrau.

Hätte der Arme doch etwas weitergelesen. Und zwar zuhause in der warmen Stube, und nicht auf seinem Smartphone, beim Überqueren der Strasse. Das ASTRA, das Bundesamt für Schweizer Strassen hält nämlich fest: «Der Strassenverkehr fordert 2013 markant weniger Opfer. ABER: Im Vergleich mit dem Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre zwei Prozent mehr bei den Fussgängerinnen und Fussgängern.» Schon in der Steinzeit haben wir unsere Höhlen zum Jagen und Sammeln verlassen, sind über Wiesen und durch Wälder gestreift und am Abend meist weitgehend unbeschadet ans Lagerfeuer zurückgekehrt. Doch heute bewegt sich der Passant im Strassenverkehr immer noch so, als müsste er höchstens ein paar seltene Mammuts fürchten, oder Säbelzahntiger. Er folgt, Lemmingen gleich, der Herde und kümmert sich nicht darum, ob jetzt gerade stehen bleiben die bessere Variante wäre, weil er sich sonst in unmittelbare Todesgefahr begibt. Und er tritt gedankenversunken oder mutwillig unvermittelt auf die Strasse und löst damit beim nahenden Automobilisten einen Überraschungsmoment aus, der in etwa so attraktiv ist, wie von einem Schiffshorn auf dem Nachttisch aus dem Tiefschlaf geweckt zu werden.

Im Laufe der Evolution haben sich die Gefahren vor der Höhle gewandelt. Sie haben nicht bloss zahlen- und gewichtsmässig zugenommen, sondern sind auch vielseitiger und noch viel überlegener geworden, als es damals die Felltiere waren. Der Homo Sapiens seinerseits hat zwar aufrecht zu gehen gelernt, dabei aber seine an sich angeborene Aufmerksamkeit und Vorsicht auf der Strecke gelassen. Tatsache ist: Ein ange- oder überfahrener Fussgänger hinterlässt an einer Blechkarrosse keinen bleibenden, jedenfalls keinen unreparierbaren Eindruck. Auch wenn er Vortritt hat und die Faust im Sack macht. Vielleicht eine geborstene Windschutzscheibe oder Scheinbeinknochensplitter in der Plastikverkleidung der Stossstange. Am Menschensohn hingegen treten Schäden mannigfaltiger Natur auf, temporäre oder nachhaltige. Im schlechtesten Falle setzt ein Zusammenprall zwischen weichem Fleisch und hartem Metall einen abrupten Schlussstrich unter sein irdischen Dasein. Und zu viel Schreibkram. Und Tränen. Es wäre heute Gelegenheit, dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Und es braucht nicht viel. Das Zauberwort heisst Augenkontakt: Vergewissern Sie sich, dass der Automobilist Sie warhgenommen hat. Und üben Sie Nachsicht, wenn ausnahmsweise nicht. Im Recht gewesen zu sein hilft in der Holzkiste nämlich nicht mehr viel.

Ansonsten bleibt lediglich eine mögliche Konsequenz: Weg mit dem 20-jährigen Vortrittsrecht für Fussgänger an Zebrastreifen. Und das würde ich dann ohne mit der Wimper zu zucken fordern. Also, Fussgänger: Reissen Sie sich etwas am Riemen. Sie haben ihn in der Hand.

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Autor: Pete Stiefel

Pete konnte pfeifen, bevor er der gesprochenen Sprache mächtig war – und an seinem ersten Schultag bereits schreiben. Trotzdem ist er da noch einige Jahre hingegangen. Danach schrieb und fotografierte er fürs Forecast Magazin, für Zürichs erstes Partyfoto-Portal stiefel.li, fürs 20 Minuten, MUSIQ, Q-Times, Party News, WORD Magazine, war Chefredaktor vom Heftli, lancierte das Usgang.ch Onlinemagazin – und er textete für Kilchspergers und von Rohrs Late Night Show Black’N’Blond und Giaccobo/Müller. Er trägt (vermutlich) keine Schuld daran, dass es die meisten dieser Formate mittlerweile nicht mehr gibt.

Irgendwann dazwischen gründete er in einer freien Minute seine eigene Kommunikationsagentur reihe13, die unterdessen seit weit über 13 Jahren besteht. Er ist mittlerweile in seiner zweiten Lebenshälfte, Mitinhaber vom Interior Design Laden Harrison Interiors, schrieb unterdessen Pointen für Giacobbo / Müller, Black 'n' Blond (mit Roman Kilchsperger und Chris von Rohr und irgendwann auf dem Planeten Kult gelandet. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein grosser Schritt für Pete.

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