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HINTER JENEN MAUERN, WO DUNKLE, DUNKLE GEDANKEN LAUERN

Adieu Tag. Die Nacht hat sich über die Dächer der geschlossenen Anstalt hernieder gesenkt, die Glasuren aus Eis und Schnee tragen. Puderzucker wäre mir auch recht. Oder Kokain. Der Hof ist menschenleer. Die Kreaturen sind zu dieser Stunde alle in ihren Zellen. Ich selbst nicht ausgenommen.

Ich bin dankbar für die Einzelhaft. Ich musste, um sie zu erhalten, einem Wärter die Nase abbeissen. Das war ein klein wenig eklig, auch der Geschmack auf der Zunge, man denke nur an die knorpelige Konsistenz. Aber es hat sich gelohnt. Meine Poster, die sie alle konfisziert haben, zur Strafe, wie man zu sagen pflegt, vermisse ich keineswegs. Jede der abgebildeten nackten und leichtgeschürzten Damen, die da prangten an der Zellenwand, hat sich derart tief in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich sie im Geiste vor mir sehe.

Als wären sie noch da.

Wenn ich die Augen schliesse, kann ich diese Damen sogar bewegen, kann ich sie drehen, wenden, sie dazu bringen, allerlei Sachen zu machen. Doch ich tue dies nicht allzu oft. Wegen der triebdämpfenden Mittel; Sie wissen schon…

Die Wärter haben mir auch alle Bücher genommen. Bis auf die Bibel, die müssen sie mir lassen, gemäss Gesetz. Doch in der Bibel kann man ein Leben lang lesen. Die Wörter, die Sätze sagen bei jedem Durchgang etwas anderes.

Gerade jetzt stecke ich wieder einmal im vierten Kapitel des Deuteronomiums. Und lese fröhlich: „So haltet sie nun und tut sie! Denn dadurch werdet ihr als weise und verständig gelten bei allen Völkern, dass, wenn sie alle diese Gebote hören, sie sagen müssen: Ei, was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!“ Gemeint sind natürlich die Gebote und Rechte, die der Herr seinem auserwählten Volk übergeben hat…

Ich selbst bin von derlei Weisheit und Verstand wohl so weit entfernt, dass ich nur leise lachen und weiterlesen kann. Nicht ohne kurz an den lieben Professor Immanuel Kant aus Königsberg, Heimat der Klopse, denken zu müssen, dessen Werke ich ja glücklicherweise und grösstenteils wortwörtlich memoriert habe, genauer an folgenden kurzen Satz: „Wenn wir die Ziele wollen, wollen wir auch die Mittel.“

„So etwas ähnliches wird sich auch Old Moses gesagt haben“, denke ich. Und schaue kurz zur nackten Glühbirne hinauf, die mir in meiner Einzelzelle Licht spendet, bevor ich weiterlesen will…

Doch, Herrgott, jetzt fängt es wieder an, lautstark, in der Zelle nebenan, die von den Herren Schaub und Rueff belegt ist, zwei stadtbekannten Grössen – sie wirken und weben im Genre der gemeingefährlichen Psychopathie, wenn man sie lässt, deshalb sind sie hier. Sie streiten immer. Schaub mit jammernder Stimme. Rueff mit seinem tiefen dunklen Organ, das aus einem mächtigen Bauch an die Oberfläche aufsteigt und dann unüberhörbar ins Freie drängen würde…

Wenn man eine Doppelzelle in einer geschlossenen Anstalt als „das Freie“ bezeichnen könnte…

– Die Wände hier sind dünn.

Zum zehntausendsten Mal höre ich Schaub sagen: „Ich bin eben ein absoluter Purist…“

Und schon erfolgt Rueffs wütende Antwort: „So ein Blödsinn Alfred, wenn du ein Purist wärst, würdest Du nicht mit mir in dieser Zelle hocken. Dann würdest Du das Wasser vom moos’gen Stein trinken, würdest Du mit einer Steinschleuder Vögel erlegen, würdest Du Brunnenkresse sammeln, Dir auf einem Feuerchen ein Süppchen kochen. Auf einem Feuerchen, mittels zwei Steinen entfacht, die Du so lange aneinander geschlagen hättest, bis die Funken sprühen.“

Schaub antwortet, seine Jammerstimme von purem Trotz gefärbt: „Und ich bin doch ein absoluter Purist. Ich nehme die Dinge nämlich so, wie sie sind. Akzeptiere die Ereignisse so, wie sie kommen. Ich mag das Reale. Das Ungeschminkte. Das Natürliche. Ich verehre Rousseau und die Petersinsel. Ich trage Thoreau im Herzen. Ich scheisse auf alles Dekorum, alle Verzierungen, die Du so liebst. Ich hasse Dich. Schon nur deshalb, weil Du Dich als Barockmenschen bezeichnest…“

Rueff fällt ihm donnernd ins Wort. Das klingt jeweils, als würde die Heilige Santa Barbara, Schutzpatronin der Kanoniere, einen fahren lassen: „Du bist ja nur neidisch. Weil ich ein Mann von Raffinesse bin. Einer, der die schönen Seiten des Lebens zu schätzen weiss. Ein Ästhet! Du willst das Natürliche lieben, bist aber ein berüchtigter Damenunterwäsche-Dieb, Damen-Spitzenunterwäsche-Dieb, um es präzise zu sagen… Du willst ein Liebhaber des Realen sein, aber Du hast die Magd der Familie Spitz entführt, hast sie dazu gezwungen, mit Dir eine zoologische Hochzeit zu feiern, nach einem komplexen Ritus, den Du Dir vorher monatelang ausgedacht hast, bis ins letzte Detail, danach musste sie für ein Jahr Dein Hausschwein spielen, komplett mit Gummimaske und Tütü. Sind dies die Taten eines absoluten Puristen? Eines Realisten? Eines Naturalisten? Rousseau hätte Dir die Leviten gelesen, Thoreau Dich geohrfeigt, ja sogar Gandhi hätte Dich verprügelt, mit einem jener Knotenstöcke aus Südafrika, die man Knobkierie heisst!!!“

Schaub nölt zurück: „Die schönen Seiten des Leben, dass ich nicht lache! Natursekt und Kaviar sind doch in diesem Leben Deine Hauptinteressen, wenn Du nicht gerade eine römische Dusche nimmst. Du bist komplett analfixiert, ein mörderischer Sadist, der zudem hemmungslos durch Blut und Eingeweide watet, wenn man Dich nur lässt. Sogar der göttliche Marquis hätte sich vor Dir geekelt. Die Dinge, die Du dort draussen angestellt hast, waren dermassen unappetitlich, dass die hartgesottenen Leute vom forensischen Dienst ausnahmsweise kotzen mussten, wie sie Deine Opfer gefunden haben…“

Also lausche ich dem Streit dieser beiden verlorenen Seelen. Meiner kleinen Nachtmusik.

Und schwöre mir selber, dass ich ihnen beim nächsten Hofgang zur Strafe die Nasen abbeissen werde. Vielleicht reisse ich ihnen auch gleich noch die Zungen raus, unter Verwendung des Daumens und des Zeigefingers meiner linken Hand, denn darin hab’ ich Übung und Erfahrung.

Ach. Wir leben schon in einer seltsamen Zeit. Hier drinnen, in dieser geschlossenen Anstalt, hausen nur gebildete Menschen. Belesen und kultiviert. Sie haben allesamt entsetzliche Verbrechen, wie man so sagt, begangen. Bewacht werden sie von Menschen mit einfachen Gemütern.

Und die dort draussen, die Freien, die Unschuldigen, wie man so sagt, die lesen nichts, wissen nichts, die tun überhaupt nichts. Ausser Rasenmähen, Kartenspielen, Kindermachen. Eigenartige Entwicklung. Wer heute Kant und Hegel, Dostojewsky und Stendhal, Freud und Céline, Strindberg und Ibsen, Levi und Crowley liest, tief liest, steht auf dem Sprungbrett ins psychopathische Verbrechertum. Wer nichts denkt, nichts tut, nichts will, darf mit einem bequemen Leben rechnen, das einer wie ich halt nicht einmal für eine Sekunde ertragen würde.

Jener Jesus Christus hat wohl geahnt und gebilligt, dass es eines Tages so kommen würde. Deshalb hat er die geistig Armen für selig erklärt… Trotzdem bin ich froh, dass ich als gebildeter Kerl hinter diesen Mauern leben darf – und ich nenne es an dieser Stelle dürfen, obwohl ich ja eigentlich muss.

Und nicht da draussen – im Sumpf des geistigen Todes – dahinvegetiere.

Nun schliesse ich meine Augen. Und mein Einschlaf-Mantra beginnt zu laufen. Wie ein Maschinchen. Tief in meinem Hirn.

Es sagt: „Jst es ein Tranm? Ein Wahubild? Ein Tenfelskreis, in deu Geile nns ziehen? Oder jst es ein erbarmnugsloses Poem, das fragt, was Glück uns hente betendet? Oh Marie, göttlicher Homo! Oh Marie, göttlicher Homo!“ Und dann wieder von vorn, bis zum Morgengrauen. Doch zunächst fahren wir in diese tiefe Nacht hinein. Alle zusammen.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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