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Bist du Schweizerin oder Serbin?

 Wenn die Leute so etwas fragen, dann fragen sie, um einordnen zu können, ihre Vorurteile gedanklich auszupacken. Das ist in Ordnung. Doch Identitätsfindung geht nicht so einfach. Lasst mich deshalb etwas ausholen.

Meine Eltern kommen aus Ex-Jugoslawien. Ich weiss bis heute nicht, was das genau bedeutet. Ich weiss weder, was das für meine Eltern bedeutet, noch für mich. So vieles aus ihrer Vergangenheit, aus einem Land, das mir weniger bekannt ist, als einige Feriendestinationen, denen ich seit Jahren treu bin, kenne ich schlicht nicht. Eine Kultur, die ich nicht vor Ort erleben konnte, nicht verinnerlichen konnte, weil ich nicht da aufwuchs, wo man landesübliches tat. Fernsah, über Prominente sprach, Zeitung las, zitierte, diskutierte, reflektierte, politisierte, Sprichwörter benutzte, die Gesellschaft analysierte, Schulstoff erlernte, Probleme hatte und lachte.

Als meine Eltern vor mehr als dreissig Jahren in die Schweiz auswanderten, hatten sie gewiss anderes im Kopf, als ihr Heimatland, das sie gerade traurig, doch entschlossen, verlassen hatten. Nicht weil sie nicht nostalgisch sein wollten, nein. Viel mehr, weil sie damit okkupiert waren im Sumpf des Existenzaufbaus nicht unter zu gehen. Ankommen ohne Geld, schuften für noch weniger Geld, Sprachbarrieren, Unsicherheit, keiner da um zu helfen, wo fährt nochmals der Bus? Was bedeutet „du musst“? Sie tauschten Familie und Freunde, Ideale und Schuldiplome gegen materielle Erfüllung und Sicherheit. Und es funktionierte. „Wo wären wir heute“, sagten sie, „hätten wir nur an den negativen Gefühlen festgehalten? Wo wärt ihr, Kinder?“

So waren sie also zu beschäftigt, um nostalgisch sein zu können, vielmehr, in der Nostalgie zu verharren. Gewiss umgab man sich mit Landsleuten. Neben dem unterbezahlten Schuften, konnte man sich wenigstens nach Feierabend wohlfühlen, nicht über jedes Wort nachdenken, das man aussprach, zusammen gleich denken. Trotzdem wollte man Deutsch lernen, so sah man deutsches Fernsehen – und verlor so muttersprachliches Vokabular. Man wollte sich kultivieren, so befasste man sich mit hiesiger Kultur – und verlor so grosse Teile der Eigenen.

In der Jugend war ich Schweizerin. Kannte ich doch die Gepflogenheiten, Feiertage, Ausdrucksweisen, moralischen Grundsätze viel besser. Ich war an der WM für die Schweiz, kannte ich doch viele Namen der Spieler aus den Medien. Näher ist einem wohl stets, was man öfter zu Gesicht bekommt.

Deine Muttersprache ist die, in der du denkst, heisst es. Diese Definition schien mir plausibel genug, um auch meine generelle Schweizer Zugehörigkeit zu definieren. Und trotzdem gab es da eine andere Muttersprache, deren Vokabular ich zwar weniger gut kannte, die mich jedoch die ersten Jahre meines Lebens begleitet, besungen, behütet hatte.

Schweizerin war ich tatsächlich, wenn ich bei einer Freundin übernachtete und der Vater sich vor dem Fernseher wegen Marco Rima schlapp lachte oder, wenn wir Patty Boser im Swiss Date zuhörten. Namen, die unbedeutend sein mögen für sie, mich jedoch zu einem Teil von ihnen machten, mir ein Zugehörigkeitsgefühl gaben, wenn ich dann plötzlich mitreden konnte. Schweizerin war ich, wenn wir den ersten August feierten und an die Fastnacht gingen, Raclette assen. Ich war keine Schweizerin, am Tag, als mein Bruder aus dem Kindergarten nach Hause kam und erzählte, er sei jetzt nur noch Schweizer und weigere sich Serbisch zu sprechen, weil man ihn tagelang gemobbt und geschlagen hatte. Ich war keine Schweizerin, als man mir bei der Jobsuche sagte, mein Name mache sich nicht so gut bei Kunden. So oft wurde mir vorgehalten, dass ich eben doch nicht dazugehörte. Und trotzdem sage ich im Ausland, wenn einer fragt: „From Switzerland! Yes! The cows, the watches, clean, everything!“. – Was die Zugehörigkeit meines Herzens zeigt.

War ich in Belgrad, so war ich Serbin. Ich fühlte, wie meine Wurzeln bewässert wurden, wenn mein Cousin erzählte, wie er einen Becher Kaffee über seine Hose geleert habe und dabei fast einen Unfall gebaut hätte, ich dann meine Schussel-Geschichten auspacken konnte und dabei nicht als Exotin abgestempelt wurde. Wie er kein Geld mehr habe für zwei Drittel des Monats oder sich unsterblich verliebt habe, die Eine gefunden hätte, nur um sie dann zwei Wochen später wieder zu verlassen. Wenn es um Chaos, Zerstreutheit, Leidenschaft und Unvernunft ging, so erwärmte sich mein Herz in Belgrad ebenso, wie auf der Couch meiner damals besten Schweizer Freundin. Wie gut für mich, dass es verschiedene Situationen gibt, die mich integriert fühlen lassen. Hier und dort unten ergibt unter dem Strich eine grössere Summe, als nur hier, dachte ich.

Ich hoffte aus beiden Welten gute Tugenden mitzunehmen und in beiden gleichermassen akzeptiert zu werden. Schwierig. Schweizer verstanden mein Chaos nicht, Serben verstanden meine Ordnung nicht. Obwohl angepasst, war es hier zu viel und hier zu wenig.

Die Menschen begegneten mir stets mit einer Erwartungshaltung, der ich nicht gerecht werden konnte.

Als Jugo musst du schlecht Schweizerdeutsch sprechen oder super angepasst sein. Am besten bist du einerlei fast unsichtbar, nicken und ducken, nicht aus der Reihe tanzen, stets dankbar sein, nie kritisieren. Aber sagen, dass du Schweizerin bist, darfst du im Leben nicht, denn das wäre ja lächerlich. Eher Papierlischwizer.

Als Schweizerin in Serbien musst du reich und grosszügig sein, weil du Geld hast, das von den Bäumen fällt und perfekt Serbisch reden, alle Lieder kennen und die Kultur würdig vertreten im neuen Land. Darfst niemals sagen, dass du auch Schweizerin bist, weil das ihren Nationalstolz verletzt. Man wirft dir vor deine Seele an den Kapitalismus verkauft zu haben. Man könne keinen Baum umpflanzen, sagten sie. Das sei unnatürlich, sagten sie. Ich fühlte mich defizitär.

Das Umfeld sieht eben nur, was es sehen möchte. Viele, viele Anforderungen, die man sowieso nicht allesamt erfüllen könnte. Irgendwann weiss man: Man tut gut daran, einfach so zu sein wie man ist, wie man sich gerade fühlt und die Kommentare auszublenden. Wer hat denn das Recht zu bestimmen wer ich bin? Auch echte Schweizer und echte Serben nicht! Zufälligerweise irgendwie mit richtigem Namen im richtigen Land geboren worden zu sein macht niemanden besser oder schlechter.

Ignoranz zu erfahren macht tolerant.

Auch hilft es zu wissen, dass wir alle einem Volk abstammen, irgendwann zu Identifikationszwecken und eben aus einem Streben nach Zugehörigkeit, unterteilt wurden. Im Zeitalter der Globalisierung, vermischen sich die Kulturen wieder intensiver und definieren unser Dasein neu. In einigen Jahren wird nicht mehr erkennbar sein, wer wann wohin ausgewandert ist. Da sagt man dann: Mein Urgrossvater war halb-Norweger und fühlt sich aber dem Land zugehörig, in dem man aufgewachsen ist, dessen Kultur man am besten kennt, was man dann weitervermittelt. Das wird wohl immer so bleiben. Bis uns die Weltgeschichte wieder neu einteilt. Bei uns Secondos, ist die Auswanderung noch frisch, weshalb die Identität nicht ganz so klar ist. Ganz klar spannend und bereichernd, doch nicht klar zuzuordnen. Man fühlt sich manchmal verloren, hat doch jeder Mensch das Bedürfnis gänzlich der Teil einer Gruppe zu sein. Zugehörigkeit macht stark.

Ich bewarb mich vor vielen Jahren an einer Hochschule. Die Aufnahmeprüfung bestand zu einem Teil daraus, alte Schweizer Lieder und Gedichte zu vervollständigen, ehemals bekannte Persönlichkeiten und Fernsehsendungen zu benennen. Grossmutters Weisheiten und kulturelle Gegebenheiten also, die einen Secondo klar von einem Schweizer unterscheiden. Dinge, die einem Mama beim Fernsehen erklärt, der Papa, Zeitung lesend am Küchentisch, kommentiert oder die Grossmutter zum Einschlafen vorsingt. Da war er. Der Realitätscheck, wie er einen hie und da trifft. Es war mir unmöglich diese Aufnahmeprüfung zu absolvieren. Noch schlimmer war, dass ich solch tiefe Wurzeln zu beiden Kulturen nicht schlagen konnte. Ich hatte eingesehen, dass ich keine der beiden Kulturen gänzlich, mit jeder Zelle verinnerlicht hatte. Das machte mich zunächst traurig, identitätslos (wer möchte schon ein Kukuckskind sein) – dann dankbar.

Wer braucht schon Grossmutters Worte, wenn er unzählige andere Weisheiten, zweier wunderbarer, sehr unterschiedlicher Kulturen, vereinbaren kann?

Wenn einer heute fragt, sage ich: „Serbische Schweizerin.“ -Und zwar mit Stolz. Was das bedeutet? Das kann sowieso nur ich wissen.

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Autor: Jelena Keller

Jelena ist von Beruf Journalistin und Sprachlehrerin, Schweizerin serbischer Abstammung. Sie mag lange Texte und langes Grübeln. Sie hat sich daran gewöhnt zu viel zu denken und zu wenig zu schlafen. Wenn sie gar kein Auge zumachen konnte sieht sie die Welt nüchtern und in einem Grauton. Wenn sie ausgeschlafen hat, wandert sie mit ihrem Hund auf grüne Berge, durch bunte Blumenwiesen und rosa Weizenfelder. Schreibt auch mal Gedichte und Kurzgeschichten, reist am liebsten um die Welt und probiert Neues aus. Sie meint tatsächlich, dass sich alle Probleme lösen liessen, wenn man sich nur ab und zu in die Lage des Gegenübers versetzen könnte. Walk in my shoes und so. Trotzdem versteht sie manche Menschen nicht. Die, die sich vor dem Leben und dem Tod fürchten und andere verurteilen. Aber von den meisten anderen denkt sie, sie seien alle Freunde, die sie bloss noch nicht kennengelernt hat.

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