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Wütend sein dürfen.

Es ist schwierig, seine Emotionen auszuleben heutzutage. Zumindest die Negativen, wie “Wut”, zum Beispiel. Man darf nicht wütend sein. Und wenn, dass nur in Ausnahmefällen, für die man eine Berechtigung vorweisen muss, und auch dann nur still in sich hinein, aber eigentlich auch das lieber nicht., obwohl man es verstehen würde, manchmal, wenn einer wütend ist, vielleicht weil ihm ein Geschäft durch die Lappen gegangen ist, vielleicht hat seine Frau einen anderen gefickt, vielleicht ist er auch einfach nur mürbe von den täglichen Meldungen in den Zeitungen, im Fernsehen, im Internet, von all dem Elend und Schrecken und Krieg gegen und für den Terror, und er fühlt sich machtlos, weiss nicht, was er dagegen machen soll ausser wütend sein, auf etwas, auf jemanden, auf den Verein, auf sich.

Er will dann etwas zusammenschlagen, oder jemanden, einen, der Schuld hat daran, aber dazu müsste man ihn erst finden. Und auch wenn er ihn finden würde und ihm eins reinhauen würde, er dürfte das nicht, weil es ein Gesetz dagegen gibt. Er würde schreien wollen, fluchen, wenigstens ein Glas gegen die Wand schmeissen, und die Nachbarn würden den Hauswart rufen und der würde sagen, dass sowas nicht geht, und er müsste sich in den Bus setzen und aus der Stadt fahren, irgendwohin, wo es keine Nachbarn hat, in Wald vielleicht, und schon wird es wie gesagt schwierig. Was will man denn im Wald. Nichts. Man will einfach mal wütend sein und das richtig. Und dabei nicht extra aus der Stadt fahren müssen.

Also Internet. Kommentare machen. Auf Nachrichtenseiten. Auf “sozialen” Plattformen. Auf denen kann er dann endlich mal asozial sein, in einem Leben, in dem das Soziale immer enger strukturiert und normiert ist, sodass das Nichtsoziale keine Luft mehr zum Atmen hat. Die Kommentarspalten sind das kleine Loch in der Mauer des mentalen Kerkers, durch welches ein bisschen Licht auf das Nichtsoziale fällt. Sie sind in einer durchregulierten und von Privatsphären befreiten Gesellschaft die einzige Möglichkeit, wütend zu sein und seine Wut auch auszuleben.

Doch die Luft wir auch hier langsam dünner. Die Netzgemeinschaft organisiert sich und straft den Wütenden im Kollektiv ab. Er wird politisch klassifiziert. Oder persönlich diffarmiert. Oder beides. Und dann automatisch der Gruppe der “Wütendenden” zugeteilt, in der sich alle Wütendenden befinden, mit dem Problem, dass die Hintergründe der Wut jedes Einzelnen zum Teil sehr unterschiedlich sind. Der Wütende will aber vielleicht nicht in die gleiche Gruppe wie die, die aus niedrigeren Instinkten als Seinen wütend sind. Also wirds für ihn auch im Internet langsam schwierig, ohne Schuldgefühle wütend zu sein.

Es ist schwierig, seine Emotionen auszuleben heutzutage. Vor allem die Negativen. Wie lange sind die Positiven denn noch positiv, wenn die Negativen nicht mehr da sind? Was, wenn die Negativen eben genau drum positiv sind, weil sie negativ sind? Was, wenn man einfach mal ganz normal wütend sein könnte, ohne dabei gemassregelt zu werden? Hätten wir dann nicht irgendwie automatisch mehr Frieden?

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Autor: Rainer Kuhn

Rainer Kuhn (*1961) hat das ganze Ding hier gegründet, aufgepäppelt, fünf Mal neu erfunden, vorher Werber, noch vorher Betriebsökonomie studiert, noch vorher Tennislehrer gewesen. Dazwischen immer mal wieder ein Kind gemacht. Wollte eigentlich mal Pferdekutscher im Fex-Tal werden, später dann Pfarrer. Im Herzen ein Landbub, im Kopf dauernd unterwegs. Schreibt drum. Hat ein paar Gitarren und ein paar Amps in der Garage stehen. Macht Musik, wenn er Zeit hat. Hat er aber selten. Blues und Folk wärs. Steht nicht gern früh auf. Füllt trotzdem die Kult-Verteilboxen jeden Monat mehrmals eigenhändig auf. Fährt Harley im Sommer. Leider mit Helm. Mag Mainstream-Medien nicht. Mangels Alternativen halt Pirat geworden. Aber das ist manchmal auch streng.

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