Ich ging mit meinem Partner in betrübter Erwartung zu einem typischen Abend für Touristen. Ein Buena Vista Social Club Konzert. Wahrscheinlich hatte mein gleichgültiger Gesichtsausdruck an meiner Frustration gelegen, weil ich während den Tagen bis dahin immer als Fremde wahrgenommen worden war und somit nicht die Möglichkeit gehabt hatte in die Herzen der Menschen zu sehen. Stattdessen aber in ihre Geldbeutel. War die Armut doch unübersehbar im herunter gewirtschafteten, glorreichen Kuba.
Ob die Band vom eigentlichen Social Club De Buena Vista sein würden, fragte ich mich. Wo doch alles künstlich und inszeniert war hier für uns. Eine Kulisse, gemacht für Besucher, die den Kapitalismus bringen. Künstliche Teile der Stadt, künstliche Hemingway Bars. Künstliche Attraktionen, die alte Zeiten imitieren sollen. Künstliche Lachen, die einem gefälschte Cohibas verkaufen wollen.
Der Abend war schön, tanzende Kubaner, die uns Stimmung machten und auf Kleingeld warteten. Ich nahm es ihnen nicht übel, der Sozialismus hatte seine Vor- und Nachteile in seinen Untertanen manifestiert.
Und doch – Echtheit erkannte ich in ihrer Leidenschaft für die Musik. Ich sah Wahrheit auf ihren geschlossenen Augenliedern. Beim Singen, hörte ich sie in den Klängen aus tiefstem Innern. Echtheit im Moment der vollen Aufmerksamkeit und Hingabe. Das Lachen galt diesmal der Musik, statt uns. Es braucht nicht viel für Leidenschaft. Nur ein paar alte Leute auf einer Bühne mit ihren Instrumenten, Stimmbändern und Herzen – so gross wie meine Vorstellung von allumfassender Liebe.
Nach den Auftritten wurden Fotos gemacht. Doch statt ihr Foto mitzunehmen war ich erpicht, ein kleines Stück ihrer Leidenschaft für mich einzupacken. Bei uns im reichen Alpenland, hatte ich sie lange nicht finden können. Ich hatte sie bei mir lange nicht finden können.
Ich fragte ein Bandmitglied, ob ich ihm ein paar Fragen stellen dürfe. Ich sei auf der Suche nach Inspiration. So setzte sich der ältere Herr zu mir und ich fragte: „Was war der eindrücklichste Moment in ihrem Leben?“ Und er begann zu erzählen. Von seiner schwierigen Laufbahn, davon wie ihn niemand singen hören wollte. Von kleinen Lokalen, dann grösseren Auftritten. Aufgeben habe er wollen, so viele Male. Es habe kein Weg an sein Ziel geführt, zum Durchbruch, aber vor allem: Zu einem Auftritt im Ausland. Und dann sei er 50 geworden. 50 lange Jahre auf der kleinen Insel. 50 Jahre voller Hingabe für die Musik, der Passión die ihn nirgends hingebracht habe. Die Berichterstattung der Welt, die Kuba ignorierte und deren Künstler verkümmern liess, keinen Erfolg zuliess. Dass er dann aber mit 52 Jahren an ein Konzert nach Spanien durfte. An all die Eindrücke, das Fliegen, die riesige Stadt, sein Herzklopfen, so stark, dass er ein paar Mal gedacht habe sterben zu müssen. Ein perfekter Tod wäre das gewesen, sagte er. Waren sie doch so lange wie Tiere in einem Käfig gehalten worden auf dieser Insel. Seine Familie habe ihm gefehlt. Wie schön es doch gewesen wäre, all dies Unfassbare mit ihnen zu teilen. Seinen Kindern, seiner Frau. Ein kleiner Teil von ihm habe deshalb gelitten, sagte er. Dass er das jemals erleben dürfe, das habe er im Leben nie gedacht. Und er erzählte noch kurz weiter, ich weiss nicht mehr genau, was es war – doch vergass ich seinen Gesichtsausdruck nicht. Den eines etwa 60-jährigen Kindes.
Ich glaubte in diesem Moment, das personifizierte Glück gefunden zu haben. Es war zwar naiv und von einschränkenden, desillusionierenden Umständen geschaffen worden – und doch so wunderbar in seiner Erscheinung. Dieser Mann hatte mehr Reichtum erlangt, als ich für möglich gehalten hatte.
Seine Stimme flüstert meinem vergesslichen Wohlstands-Ich noch heute von Zeit zu Zeit zu: „Gib nicht auf, du weißt nie, wie nahe du am Ziel bist. Alles ist schöner, wenn wir es teilen. Würden wir alles mit den Augen eines Unerfahrenen betrachten, fühlte es sich vielleicht wieder so an, als sei es das Erste Mal.“
Es gibt Reisen, die Leben verändern.
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