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Leila trauert

Leila ist traurig. Mehr als das. Wie es in ihr drin aussieht, kann niemand erahnen. Leilas Bruder ist tot.

Er war 19 Jahre alt, genau wie sie, die beiden waren Zwillingsgeschwister. Das hätte man den beiden aber nicht ohne Weiteres angesehen: Balz, wie ihr Bruder hiess, war deutlich voluminöser als seine Schwester, geradezu wuchtig. Im Gegensatz zu Leila: Sie ist filigran, süss, eine Handvoll. Der Grund liegt wohl darin, dass der Bruder seit Geburt immer etwas mehr abbekommen hat. Leila stand über all diese Jahre in seinem mächtigen Schatten, und dieser Schatten ist jetzt fort. Ersetzt von einem noch viel grösseren, eisig kalten, dunklen Nichts, das sich über ihre Seele gelegt hat.

Balz war krank
Er litt unter Muskelschwund, und er war schon länger nicht mehr dieser grosse, mächtige Bruder, zu dem man aufschaute. Er war gebrechlich geworden über die Zeit, immer dünner, immer müder. Ein schleichender Tod, der sich ankündigte, und der auch aus seinen Augen sprach. Leila konnte oder wollte die Zeichen aber nicht verstehen. Sie wusste bloss, dass es jetzt an ihr lag, sich um ihr Fleisch und Blut zu kümmern. Dabei spielte es keine Rolle mehr, dass ihr der Bruder über all diese Jahre in der Sonne stand und sie deshalb nicht die selbe imposante Erscheinung hatte. Wer sonst sollte sich um Balz kümmern, wenn nicht sie? Deshalb wich sie nicht von seiner Seite, schlief bei ihm, wachte auf, wenn er sich regte und konnte ihre Augen erst wieder schliessen, wenn sein Atem ruhig und gleichmässig geworden war.

Es war ein sonniger Samstagmorgen, als er ging und nicht mehr wiederkam
Erst begriff sie nicht, was geschehen war – auch heute hat noch nicht restlos verstanden, weshalb sie nun alleine ist. Noch heute hofft sie jeden Abend, dass er am nächsten Morgen wieder vor der Tür steht. Leila weint laut, sie weint bittere Tränen, dass es einem das Herz zerreisst, und sie ist untröstlich. «Warum? Du warst 19 Jahre da, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Natürlich, wir haben gestritten, du warst ungerecht, ich hinterlistig. Aber so ist das doch bei Bruder und Schwester, nicht wahr? Wir haben uns doch trotzdem geliebt, so sehr, wie es nur Brüder und Schwestern können, so intensiv, wie es nur Zwillinge tun.» Leila trauert, und sie wird dieses Unglück wohl nie mehr ablegen können. Aber tief in ihrem Inneren weiss sie, dass sie beide sich irgendwann im Katzenhimmel wieder begegnen werden.

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Leila & Balz

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Leila & Balz

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Autor: Pete Stiefel

Pete konnte pfeifen, bevor er der gesprochenen Sprache mächtig war – und an seinem ersten Schultag bereits schreiben. Trotzdem ist er da noch einige Jahre hingegangen. Danach schrieb und fotografierte er fürs Forecast Magazin, für Zürichs erstes Partyfoto-Portal stiefel.li, fürs 20 Minuten, MUSIQ, Q-Times, Party News, WORD Magazine, war Chefredaktor vom Heftli, lancierte das Usgang.ch Onlinemagazin – und er textete für Kilchspergers und von Rohrs Late Night Show Black’N’Blond und Giaccobo/Müller. Er trägt (vermutlich) keine Schuld daran, dass es die meisten dieser Formate mittlerweile nicht mehr gibt.

Irgendwann dazwischen gründete er in einer freien Minute seine eigene Kommunikationsagentur reihe13, die unterdessen seit weit über 13 Jahren besteht. Er ist mittlerweile in seiner zweiten Lebenshälfte, Mitinhaber vom Interior Design Laden Harrison Interiors, schrieb unterdessen Pointen für Giacobbo / Müller, Black 'n' Blond (mit Roman Kilchsperger und Chris von Rohr und irgendwann auf dem Planeten Kult gelandet. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein grosser Schritt für Pete.

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