Heiligabend 2010 – Teil 1

„Ich hätte gerne ein Filet im Teig.“ Während Kevins Zeigefinger ausgestreckt auf das Objekt seiner Begierde gerichtet ist, staut sich hinter seinem Rücken eine lange Schlange von Menschen, die auf das vorbestellte Fondue Chinoise warten, das sie in ein paar Stunden ihren Liebsten als Festtagsmenu auftischen werden. Weihnachtsstimmung hängt in der Luft und vermischt sich mit dem würzigen Fleischgeruch der Metzgerei. Um sich die Wartezeit zu verkürzen reden die Leute ausgelassen über Gott und die Welt oder den unbelehrbaren Nachbarn vom Parterre links (diesen Tubel), der auch im Winter die Haustüre immer offen stehen lässt.

„Dieses hier?“, geführt von Kevins Zeigefinger greift der kräftige Mann hinter der Auslage nach einem ca. 30 Zentimeter langem Prachtstück. „Nein, das daneben,“ korrigiert Kevin den Metzger mit zögernder Stimme und unterstreicht die präzisierte Richtungsangabe, in dem er seinen Zeigefinger ein paar Millimeter nach rechts bewegt. Der Metzger hebt seinen Kopf und schaut Kevin mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Das ist aber eine Einzelportion…“ Wie auf Knopfdruck scheinen die ausgelassenen Gespräche über Gott und die Welt und den unbelehrbaren Nachbarn vom Parterre links plötzlich zu verstummen. Kevin spürt, wie die erwartungsvollen Blicke der andern Kunden seinen Rücken durchbohren. Hätte er gewollt, dass alle Leute wissen sollten, dass er Heiligabend alleine verbringt, hätte er sich’s auf die Stirn tätowiert und keine Hilfe eines unbeholfenen Metzgers dazu gebraucht. Eine beklemmende Ruhe erfüllt den Laden, dann kommt ein leises, leicht gereiztes „Ja“ über Kevins Lippen. Während er ein paar Augenblicke später mit seiner Einzelportion in der Hand Richtung Kasse läuft spürt er, wie sich aus einem Ozean voll falschem Mitgefühl ein Tsunami erhebt und auf ihn zu donnert. In Gedanken rammt er sich einen Zigeunerspiess in die Brust, der neben ihm in der Auslage liegt.

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Autor: hugentobler

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