E for Ecstasy

Als Ende letzten Jahres Opel den neuen Astra GTC präsentierte, schickte die Presseabteilung gleich mehrere historische Fotos mit, welche die Geschichte der Baureihe bis zu ihren Anfängen 1936 noch unter dem Namen Kadett dokumentieren sollte.

Ein Foto erregte sofort meine Aufmerksamkeit. Es zeigte den Kadett E, der im August 1984 präsentiert und zum «Auto des Jahres» gewählt wurde. Mit einem cW-Wert von 0,30 ist der sportliche GSi mit 115 PS zu seiner Zeit die windschlüpfigste Limousine der Welt. Das Auto gefiel mir damals – ich war gerade mal 16 Jahre alt – ausgesprochen gut. Ich fand das Design unverschämt futuristisch und gewagt – eine Einschätzung, die beim heutigen Betrachten des Bildes schlicht unvorstellbar scheint.

Es ist aber vor allem das mit abgebildete Zeitgeist-Pärchen mit seinem Unisex-Haarschnitt und dem auf keinen Fall körperbetonenden Outfit, das mich und meine Erinnerungen in die Vergangenheit saugt. 1984 war ein spezielles Jahr, nicht nur wegen Orwell. Es war das Jahr, in dem Depeche Mode ihr Album «Some Great Reward» schufen und obwohl ich einzelne frühere Tracks kannte, war es die Single-Auskopplung «People are People», die mich elektrisierte, lobotomisierte und musikalisch prägte. Damals hatte ich nicht erahnen können, dass DM die einzige für mich relevante Band aus dieser Zeit sein würde, die fast 30 Jahre später immer noch existieren würde.

Überhaupt war 1984 musikalisch sehr stark. Die Schweizer Single-Jahreshitparade wird angeführt von Laura Branigan mit «Self Control», gefolgt von Alphaville mit «Big in Japan» und Talk Talk mit «Such a Shame». Alles Titel, für die man sich weder damals noch heute zu schämen brauchte. Erst beim 4. Platz – «Jenseits von Eden» von Nino de Angelo – taten sich in den Schulklassen musikideologische Gräben auf. Andere, noch heute bekannte Hits von 1984 waren «Smalltown Boy» (Bronski Beat), «Relax» (Frankie goes to Hollywood) oder «Radio Ga Ga» (Queen). Das Nummer 1 Album kam vom King of Pop himself und hiess «Thriller». Weitere Klasse-Alben von 1984 waren «Diamond Life» (Sade), «No Parlez» (Paul Young) und natürlich «It’s my Life» (Talk Talk).

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten und so überrascht nicht, dass 1984 «Modern Talking» und «New Kids on the Block» gegründet werden, letztere waren die ersten Vertreter moderner Boygroups. Eines der Mitglieder war übrigens Donnie Wahlberg, der ältere Bruder von Hollywood-Star Mark Wahlberg.

So schön herzig wie alles klingt, so furchterregend war die geopolitische Realität. Wir befanden uns am Höhepunkt des kalten Krieges. Am 18. Januar teilte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS mit, dass in der DDR mit der Aufstellung von Nuklearraketen begonnen wurde. Am 13. Februar wurde Konstantin Ustinowitsch Tschernenko zum neuen Generalsekretär der KpdSU gewählt. Ein neuer starker Mann in Moskau konnte immer alles bedeuten. Angeheizt wird das Angstklima in Europa am 11. August, als US-Präsident Ronald Reagan bei einer Mikrofon-Sprechprobe die Bombardierung der Sowjetunion verkündet. Zwar nur im Scherz, doch wir in Europa, das Filetstück zwischen den hungrigen zwei Grossmächten, machten vor Furcht fast in die Hose.

Das Ende der Welt schien sowieso nah: Am 16. Oktober besagt der Waldzustandsbericht, dass bereits 50 Prozent des deutschen Waldes von sichtbaren Schäden betroffen sind. Auch in der Schweiz grassiert die Hysterie des Waldsterbens. Bis heute scheinen die Menschen diesbezüglich wenig gelernt zu haben, anders ist die überproportionale Aufmerksamkeit, die der VCS in den Medien für seine teils hanebüchene Angstmacherei erhält, nicht erklärbar.

Grauenhaft auch die Chemiekatastrophe vom 3. Dezember im indischen Bhopal: In der Pestizidfabrik der Union Carbide entsteht eine Giftgaswolke – Tausende sterben.

Doch es gibt auch Lichtblicke, die Mut machen: Nach der Verfassungsänderung in Südafrika nimmt Pieter Willem Botha am 5. September erstmals Angehörige der schwarzen Mehrheit in sein Kabinett auf. Und auch die Schweiz würdigt ihre politisch ehemals zweitklassige Bevölkerungsgruppe: Am 2. Oktober wird mit Elisabeth Kopp erstmals eine Frau in den Bundesrat gewählt und übernimmt das Justizministerium.

Und mancherorts entsteht die Zukunft, nur weiss man es damals noch nicht: Nachdem die britische Regierung am 1. März einer Starthilfe von 250 Mio. Pfund Sterling zugestimmt hat, steht dem Airbus-Projekt nichts mehr im Wege. Am 14. August stellt IBM den IBM Personal Computer/AT vor. Seine Technik ist als AT-Format über mehr als ein Jahrzehnt Standard in diesem Marktsegment. Bereits früher schon, nämlich am 24. Januar, führt Apple den Macintosh ein. Zumindest die Kurzform «Mac» dürfte auch jüngeren Computerbenutzern heute etwas sagen.

Inzwischen gibt es die DDR nicht mehr und die Russen sind unsere Freunde geworden, denn sie liefern uns schliesslich Gas und investieren in Andermatt. Dieter Bohlen lässt nur noch singen, dem Wald geht es prächtiger denn je und aus dem Kadett ist bereits 1991 der Astra geworden – weil er sich so international besser vermarkten lässt. Heute sind wir irgendwo beim Buchstaben «I» angelangt. Und das Alphabet ist noch lange nicht zu Ende…

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Autor: Henrik Petro

In den 90ern prägte Henrik als Moderator von Sputnik TV trotz seines Ostschweizer Dialektes die Erinnerungen der Partyjugend bis heute. Während mehrere Jahre war er Chefredaktor des gleichnamigen Magazins. Später schrieb er fürs Fernsehen (u.a. Chefautor von Dieter Moor und Rob Spence, eine Folge der SitCom "Fertig Luschtig") und produzierte auch (u.a. 150 Folgen von "Der Scharmör"). Er war die ersten Jahre von Radio Street Parade Musikchef und war dann später einige Jahre Autojournalist.

Arbeitet heute hauptberuflich als Frauenversteher, aber da er von seinen Freundinnen, BFFs, Kolleginnen und wem er sonst noch sein epiliertes Ohr leiht, kein Geld dafür verlangen kann, dass sie ihm ihre Männerprobleme in allen Details schildern, arbeitet er zusätzlich noch gegen Entgelt als Chefredaktor in einem Fachverlag. Damit sein Hirn unter dieser Belastung (und wegen Handy-Antennen) nicht explodiert oder eine Selbstlobotomie durchführt (was ihm zwar die Aufmerksamkeit von Gunter von Hagen garantieren und somit zur Unsterblichkeit verhelfen würde), schreibt er Kolumnen für kult. Am liebsten über menschliche Begegnungen. Oder überhaupt über Menschen. Oder darüber, was Menschen so tun. Oder getan haben. Oder tun könnten. Oder sagen. Oder gesagt haben. Oder sagen könnten.

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