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Vielleicht sollten wir den Tag abschaffen…

Die Nacht war immer schon meine liebste Freundin. Die Welt verwandelt sich, wenn es dunkel ist. In finsteren Ecken regt sich plötzlich Leben, von dem am Tag keine Spur vorhanden war. Das Ding im Kleiderschrank erwacht. Das Ding in der leeren Wohnung da oben beginnt mit quietschendem Schritt herumzulaufen. Vielleicht tanzt es sogar, zu einer verwunschenen, vergessenen, verlorenen Version des Cole Porter-Songs „They All Fall In Love“, die – irgendwann in den späten 1920er Jahren – im tiefsten Bauch einer alkoholischen Nacht aufgenommen worden sein könnte.

Dämonische Augenschlitze leuchten dir aus Büschen und Kellerfenstern entgegen. Der Fürst der Phantome ist aufgewacht. Und hat seine Schaubude der Dunkelheit eröffnet.

Das Labyrinth jener tausend Wunder der Finsternis wartet.

Am dunklen Himmel flattern Vampire, mit ihren mächtigen Fledermausflügeln. Flüchtige Schemen bevölkern finstere Strassenecken und flüstern mit eigenartigen Stimmen, die ganz sicher nicht von Kehlköpfen aus lebendigem Fleisch erzeugt werden. Wer ihnen lauschen mag, erfährt vieles über die Geheimnisse der Nachtwelt. Irgendwann legst du dich hin. Wenn dein vom Tage zermartertes Hirn dann endlich zur Ruhe gekommen ist, reihst du dich ein. In die Karawane der Träume. Wer weiss, wo sie dich heute hinführen wird.

Wird sie dir Herzenswünsche erfüllen? Oder dich in einen Abgrund des Schreckens stürzen? Wirst du Lust erfahren? Oder namenloses Grauen?

Wir können es nie voraussagen.

Trotzdem lassen wir uns Nacht für Nacht auf ein Neues davontragen. Ins Ungewisse. Und dies, ohne Angst davor zu haben. Mit genau jenem Mut zur Fatalität, der uns am Tage in der Regel fehlt.

Selbst Menschen, die sich im Alltag mit eisernen Klauen an jenem Stückchen Realität festhalten, an jenem Quäntchen Normalität festklammern, die sie sich im Laufe der Jahre mit Mühe und Not angeeignet haben, stellen sich nächtens der Unberechenbarkeit anheim. Lassen sich in den tiefen Brunnen der Träume fallen, liefern sich der Ungewissheit aus…

Wenn die Musik der Nacht spielt, werden wir alle zu abenteuerlichen Figuren auf dem Schachbrett der Fatalität. Selbst jene, die nicht schlafen können. Auch ihre Gedanken werden an Orte geführt, die sie am Tag nicht betreten können – im Guten wie im Schlechten. Jaja, die Welt ist tiefer als der Tag gedacht, das hat schon der alte Fritz Nietzsche gewusst…

Geben wir es doch zu. Das Leben ist nicht bloss von kompletter Ungewissheit umgeben, auch in seinem Innersten schlummern immer weitere Rätsel, warten immer weitere Labyrinthe, in jenem Innersten bergen Geheimnisse immer weitere Geheimnisse, Schicht um Schicht, Schale um Schale – ad infinitum… Da findet sich kein fester Kern, auf den wir uns berufen könnten. Diese schwarze Kirsche hat keinen Stein. Damit müssen wir leben. Sogar die Ratio könnte ja durchaus ein Irrlicht sein, das uns davon abhält, der Ungewissheit – und damit den wahren Realitäten des Lebens – in die Arme zu fallen. Und die Ratio ist ganz gewiss ein Kind des Tages… Wir könnten den Tag also abschaffen…

Ich wäre keineswegs dagegen…

Die Dunkelheit ist unsere Mutter. Es ist nicht etwa so, dass die Menschen dem Licht entgegenstreben würden, wie es uns so viele mediokre Glaubensangebote weismachen wollen. Es ist evident, dass wir von der Dunkelheit abstammen. Und uns am Ende in genau dieser Dunkelheit wieder auflösen werden. Kein Grund zur Besorgnis. Deshalb müsste man eigentlich auch keine Angst vor dem Tod habe – sowie jenem vieldiskutierten Ominösen, das darauf folgen könnte. Schliesslich haben wir auch keine Angst vor dem Ort, an dem wir uns Abermillionen Jahre lang aufgehalten haben, bevor wir geboren wurden. Obwohl wir über diesen Ort genauso wenig wissen. Warum sollen wir denn Angst vor jener Zone haben, in die wir eintreten werden, wenn wir plötzlich an den Ufern des Styx vor dem alten Fährmann stehen, der uns in die Unterwelt rudert? Wir kommen aus dem Ungewissen – und gehen ins Ungewisse. Das ist nun einmal unsere Natur, wir können halt träumen nur – und sonst gar nix!

Vielleicht sollten wir ein bisschen mehr von jenem Mut, der uns jede Nacht relativ sorglos ins Ungewisse gleiten lässt, in die Welt des Tages mitnehmen. Vielleicht sollten wir den Tag sogar ganz abschaffen…

Also ich wäre keineswegs dagegen…

Gerade heute, wo unser aller Alltag permanent unter der Peitsche des Wortes Krise stehen soll, weil es die Hybris der Mächtigen, die im Licht zu stehen glauben, so will. Doch auch jenes Licht der Mächtigen erweist sich am Ende als trübe Ausgeburt des Imaginären, es erlischt, sowie die Dunkelheit herabfällt. Die Nacht kennt keine Krise. Die Nacht rechnet nicht so genau, lässt Fünfe gerade sein. Die Nacht lässt sich ihre Geheimnisse von keiner Kosten-Nutzen-Analyse, keiner verdammten SWOT-Analyse, keiner Buchhaltungsprüfung abnötigen.

Wenn sie einmal da ist, umhüllt sie auch die fleissigsten Analytikerinnen und Analytiker – und führt sie in jene dunklen Bereiche der Existenz, die eben bodenlos sind. Es sind die Streber, die Machtmenschen, die Kontrollfreaks, die sich vor der Nacht fürchten müssen, denn im Nabelnest der tiefsten Nacht wohnen die Schatten, die sich keinen Deut um Resultate und Qualitätskontrollen scheren, die Schatten, vor denen jeder rationale Impuls weichen muss.

In der Nacht vereinen sich die Logik und der Widersinn zu einer einzigen Realität, nahtlos, ohne Brüche.

Kein Wunder, dass es gerade die Jugend unserer seltsamen Zeit in die Arme der Nacht treibt, weil ihnen die engstirnigen, aber ungeschriebenen Gesetze, welche unsere Tage bestimmen, keinen Spielraum mehr lassen.

Die Krähen, die Vogelscheuchen, die Liebenden, die Trinkerinnen und Trinker, Axtmörder, Vampire, Werwölfe, alle libidinös Besessenen und die Leuchtkäfer wissen es – die Nacht ist der bessere Tummelplatz.

Wir müssten den Tag daher dringend abschaffen…

Wie gesagt: Ich wäre keineswegs dagegen…

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

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Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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