Manchmal sehne ich mich nach dem alten Telefon mit der Wählscheibe zurück, das keine – wie auch immer gearteten – Anzeigen aufgewiesen hat. Und auch keinerlei Beantworterfunktionen.
Manchmal sehne ich mich nach den Glanztagen der Post zurück, als ich alle Nachrichten am Morgen noch aus dem Briefkasten gefischt habe, mir nach der Lektüre der Schreiben gute Antworten überlegte, diese mit der Füllfeder zu Papier brachte, die Briefe, die also geworden waren, in Kuverts schob, Briefmarken draufklebte – und dann vergingen wieder einige Tage oder gar Wochen, bis ich Reaktionen erwarten durfte. Wenn es sich um den Austausch von Liebesbotschaften handelte, war die Erwartung natürlich von Sehnsucht erfüllt. Sehnsucht. Bis zum Bersten. Aber ich habe das ausgehalten. Und alle anderen Leute auch. Das Element Vorfreude hat uns das Warten versüsst.
Manchmal sehne ich mich nach dem Warten auf ein neues Buch aus den USA zurück, von dem ich in einer Zeitschrift gelesen hatte, das ich sodann im Buchladen bestellte, worauf mir der – genauso freundliche, wie belesene – Fachhändler sagte: „Es kann aber gut einen oder zwei Monate dauern, bis dieses Buch hier ist.“ Folgende Antwort wäre mir damals keinesfalls in den Sinn gekommen: „Nein, das dauert mir zu lange.“ Ich sagte vielmehr: „Spielt keine Rolle. Ich will dieses Buch lesen. Ich habe Geduld.“ – Und dies, obwohl ich den Wälzer eigentlich kaum erwarten konnte. Aber die Langsamkeit gehörte halt zum Leben.
Manchmal sehne ich mich nach jenen drei Fernsehprogrammen zurück, denen man einst auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Zappen machte angesichts dieses Angebots keinen Sinn – und wenn du umschalten wolltest, musstest du dich aus deinem weichen Furzsessel erheben, zum Apparat laufen und mit geübter Hand am Rad drehen. Denn es gab keine Fernbedienung. Und ab 23 Uhr flimmerte nur noch der Ameisenkrimi über die Mattscheibe, wie man den Bildschirm damals nannte.
Man könnte sich jetzt vorstellen, dass jene verflossene Zeit langweilig gewesen ist. Doch das war sie eben nicht. Sie war erfüllt von Spannung, der Spannung des Wartens. Und dem Warten haben wir standgehalten, mittels Anwendung einer Technik namens Geduld.
Wenn der Angerufene das Telefon nicht abgenommen hat, war dies absolut kein Grund zur Aufregung. Er wird halt unterwegs sein, hat man gedacht. Und sich problemlos damit abgefunden. Vielleicht erreiche ich ihn ja heute Abend – oder dann halt Morgen. Man hat ja Zeit. Und Geduld. Kaum etwas war so dringend, dass man die Leute deswegen gleich „sprengen“ musste, wie der Schweizer Volksmund es damals nannte. Für stürmische Einsätze waren höchstens die Polizei, die Sanität und die Feuerwehr zuständig.
(Das Wort Blaulicht-Organsiationen hat man damals übrigens genauso wenig gekannt wie das Wort Organisationsentwicklung, entwickelt hat man höchstens Fotografien. Herren, die Nacktfotos von ihren Freundinnen gemacht haben, verfügten meistens über eine eigene Dunkelkammer im Keller. So auch ich. Ich hatte die Apparate von einem Onkel geerbt. Manche Dinge liegen einfach in der Familie. Man konnte Filme mit solches Aufnahmen seinerzeit nämlich nicht einfach in einen Foto-Laden bringen. Aus Rücksicht auf den guten Ruf.)
Wenn das sehnsüchtig erwartete Schreiben dann endlich vom Briefträger geliefert wurde, hat man das Kuvert vorsichtig aufgemacht, man wollte die wertvolle Botschaft ja nicht zerstören. Wenn du den Brief gelesen hast, waren jede Zeile, jedes Wort wichtig, bedeutungsvoll, du hast ihn sogar mehrmals gelesen. Die Worte, die Sätze wurden damals mit Bedacht notiert, man konnte sie nicht so schnell durch eine nachgeschobene Botschaft relativieren. Der Inhalt des Schreibens hat dich dann tagelang begleitet, beschäftigt, beseelt – und du hast dir mit der Antwort entsprechend Mühe gegeben. Und Zeit gelassen.
Wenn das Buch aus den USA schliesslich angekommen war, wurde der Tag zum Glückstag. Du konntest das ferne Land, wenn du es geöffnet hast, beinahe riechen. Es war, als hättest du mit dem Buch ein Stück Amerika frei Haus geliefert bekommen. Fast ehrfürchtig hast du es gelesen – und dir dabei langsam und bedächtig eine Meinung zum Inhalt gebildet.
Am Morgen hast du in der Zeitung das Fernsehprogramm studiert. Oft genug hast du dabei festgestellt, dass „heute nichts Gescheites kommt“. Das hat dich aber keineswegs aufgeregt. Machen wir halt einen Monopoly-Abend, einen Fondue-Abend, einen Sex-Abend… Wenn dann mal ein interessanter Film auf dem Programm stand – zum Beispiel „Viva Zapata“ mit Marlon Brando oder etwas von den Marx Brothers -, hat dir die Vorfreude auf den Streifen gleich den ganzen langen Tag versüsst.
Computer gab es höchstens in Science-Fiction-Romanen – und sie waren von einer Aura des Hochkomplexen umgeben, nur Nobelpreisträger konnten so etwas verstehen. Eine Flugreise war ein seltener Höhepunkt – im fernen Land fand man erstaunliche Lebensmittel und Produkte, die zuhause keine Menschenseele kannte, man konnte mehrere Tischgespräche mit Erzählungen aus der Fremde bestreiten, vor einer staunenden Zuhörerschaft. Und im Kino konnte man nicht nur die neusten Filme sehen – sondern auch immer wieder die alten. Kein Mensch hatte ein Videogerät zuhause. Es wurden ja damals auch nicht genügend Filme produziert, um alle Kinos permanent mit Neuheiten zu bespielen…
Ja manchmal sehne ich mich nach dem alten Telefon mit der Wählscheibe zurück, nach dem sehnsuchtsvollen Warten, nach der Geduld, nach der Vorfreude. Wir alle waren damals weniger krank im Kopf! Und die Zeit ist eindeutig langsamer vergangen.
Wobei uns unsere Grosseltern schon damals gerne sagten, dass wir in einer wahnsinnig hektischen Zeit leben, die die Menschen ganz irre machen würde – sie habe sich nach den Tagen der Pferdefuhrwerke zurückgesehnt. Damals habe ich über diese Aussagen der Alten gelacht, heute weiss ich, dass sie recht hatten. Inzwischen gehe ich sogar davon aus, dass jener allererste Mensch, einst von unbekannten Kräften, aus unbekannten Gründen geschaffen, wohl der normalste gewesen sein muss – und der glücklichste.