Meine wackere Grosstante Berta-Louise selig, Bärti genannt, wahrlich eine Dame aus Stahl, hatte einen klaren Notfall-Plan im Kopf. Dieser Plan basierte auf jenem Gedanken, der da besagt, dass es nach Einbruch der Dunkelheit auf dieser Welt gefährlich wird. Mit der Dämmerung, die langsam übers Land hereinbricht, kommt auch die Gefahr; täglich – wie zwei brave Schwestern schreiten die beiden voran. Hand in Hand.
Wenn meine Grosstante also nach 17 Uhr noch auf der Strasse unterwegs war, ballte sie ihre rechte Hand um den dicken Schlüsselbund herum zur Faust. Zwischen die Finger klemmte sie die einzelnen Schlüssel.
Das ganze Arrangement wirkte gleichsam wie ein Schlagring mit fiesen langen Metallspitzen. „Und wenn mir einer blöd kommt“, sagte sie gerne und genüsslich, „stecke ich ihm den grossen Schlüssel direkt ins Auge. Mit Anlauf. Wenn er verwirrt auf den Schrecken und den Schmerz reagiert, seine Hand unkontrolliert zur Verletzung im Gesicht hochfahren lässt, steche ich ihm den Schlüssel gleich noch ins andere Auge. Dann laufen ihm seine Augäpfel aus. Er erblindet und greift gewiss keine ältere Damen mehr auf der Strasse an. Vor einem weissen Stock muss ich keine Angst haben. Hehehe!“
Der “grosse Schlüssel“ meiner Grosstante war natürlich so ein urgemütliches altmodisches Stück mit Bart.
Die „Augäpfel laufen aus“, das ist mir immer ganz besonders eklig vorgekommen. Sie laufen also aus. Der Augensaft läuft dir in die Nase, sodann in den Mund – und schmeckt dort wahrscheinlich so salzig-ölig-umami. Obwohl du unter derartigen Umständen wohl kaum auf den Geschmack achten wirst. Geschweige denn auf das Bouquet oder den Abgang.
Ich habe mir den Augapfel – in meinen ach so unbeschwerten Kindheitstagen – deshalb ein bisschen wie ein rohes Ei vorgestellt, das da ausläuft, wenn seine Schale zerbricht. Erst Jahre später habe ich herausgefunden, dass der Augapfel in Wirklichkeit ein fast kugelförmiges, recht solides Teil ist. Als ich nämlich jenen Kampfkunst-Trick erlernen durfte, bei dem man seinem Gegenüber den Augapfel mit einem gut gezielten seitlichen Stoss aus der Höhle ploppen lässt.
Plopp.
Mit etwas Glück und Geschick kann man den Bulbus oculi dann in sein Nest zurück versorgen – und alles ist wieder gut. Wenn der Trick von echten Könnerinnen oder Könnern durchgeführt wird, läuft nicht einmal gross Kammerwasser aus. Kein Licht geht verloren. Im Idealfall. Aber die Schockwirkung ist für den Gegner beträchtlich!
Auf der Transsibirischen Eisenbahn, irgendwo zwischen Omsk und Irkutsk, habe ich mal zwei russische Boxer kennergelernt, eiserne Muskelprotze, mit Ikonen volltätowiert bis über die Hemdkragen, keineswegs ungebildet, der eine hatte seinen Uni-Abschluss in Meteorologie absolviert, der andere in Quantenphysik, beide sprühten nur so vor Humor, wobei sie vor allem Mord- und Selbstmord-Witze zum Besten gaben. Die haben sich jeden Abend gegenseitig die Augäpfel rausgeprügelt – und dann wieder sorgsam in den Höhlen versorgt. Zum Spass. Und zur Unterhaltung der anderen Gäste im Speisewagen. Das war eine recht fröhliche Angelegenheit!
Wenn man jemanden hingegen den grossen Schlüssel – genauso wuchtig, wie blitzschnell – in ein offenes Auge rammt, ist die Chance gut, dass der ganze Ball durchstochen wird, mit Anlauf durch die Hornhaut, die Linse und den Glaskörper. So man den Schlüssel, dessen Bart in einem derartigen Fall ja wie ein regelrechter Widerhaken wirken kann, nicht einfach im Auge stecken lässt, sondern ihn wieder kräftig zurückzieht, reisst man seinem Gegenüber wahrscheinlich das ganze Auge aus der Höhle, komplett mit Anschlusskabel. Schon hat man ein saftiges Augapfel-Spiessli mit Sehnerv-Schwänzchen in der Hand, braucht dann eigentlich nur noch Kaiser Sauce – und der Snack ist perfekt.
Eigentlich eine saubere dreckige kulinarische Verlockung, wäre durchaus auch als Garnitur für einen supertrockenen Dirty Martini denkbar.
Ich weiss zwar nicht, ob sich meine Grosstante Berta-Louise selig, Bärti genannt, das mit dem Augapfel so vorgestellt hat. Trotzdem bewundere ich ihre Haltung in dieser Sache noch heute. Sie war eine ältere Dame mit einem klaren Plan. Und das braucht unsere müde Welt: Menschen mit Plänen! Sowie einem Schlüsselbund…
(((Wir könnten hier natürlich, nebst der kulinarischen, noch die psychosexuelle Komponente der Augenthematik ansprechen, könnten die Parallelen zwischen Blendung und Kastration ins Spiel bringen, die – dank Ödipus (???? vor Christus – ???? vor Christus) und seit Sigmund Freud (1856 – 1939) – zu den schönen Stücken im Leierkasten der Psychoanalyse gehören, könnten Georges Bataille (1897 – 1962) und seine «Geschichte des Auges» (1928), den göttlichen Bunuel (1900 – 1983) und seine Augenspalterei in «Un Chien Andalou» (1929) erwähnen, auf Ken Russels (1927 – 2011) «Gothic» (1986) verweisen, wo Nippel, die mächtige Titten zieren, plötzlich zu blinzelnden Äuglein mutieren, könnten die Idee ins Feld führen, dass es – nebst der Vagina mit Reisszähnen, der vielzitierten Vagina dentata eben – auch die Vagina mit dem hypnotischen Auge gibt, geben muss – und könnten dann noch LouLou (geboren 1986, ich weiss nicht, ob sie noch lebt) hinzufügen, jene extraordinäre Stripperin, sie trat in einem Nacht-Club in Manila auf (2009), zu Halloween, die harte Zuckerguss-Augäpfel aus ihrer Pussy gespickt hat, direkt in die Cocktailgläser der werten Gäste hinein, eine artistische Meisterinnenleistung bestimmter Muskeln, wohl trainiert; aber das wollen wir heute schön bleiben lassen!)))