in

Wenn ein Kind Sie mit einer Petflasche am Ohr anruft, dann gehen Sie gefälligst ran

Ich mache mir nicht die Illusion, dass Sie mich vermisst haben – da bin ich trotzdem wieder. Genug des Geplänkels. In einem Zürcher Tram habe ich vor ein paar Monaten eine Szene beobachtet, die mich nachdenklich stimmte. Folgender Dialog spielte sich zwischen einem Kindergarten-Bub (blond, kraushaarig, Kulleraugen, huere herzig) und seiner Mutter (operiert, überschminkt, im Deux-Piece) ab:

Er: «Mami, lueg emal das lustige, flache Tram a dere Schiibe! 

Wämmer nachher echli mit dem go umefahre?» 

Sie: «Maximilian, das isch doch ganz offesichtlich keis echts Tram, das isch e Werbeflächi vo de Vontobel-Bank.

Das isch eini vo de renommiertischte Privatbanke ufem Zürcher Finanzplatz»

Den letzten Satz sagte sie besonders laut. Demonstrativ laut. Als wäre sie stolz das zu wissen. Vielleicht weil sie ein Konto da hat. Oder ein Schliessfach. Vielleicht auch nur weil sie die Wort Finanzplatz und renommiert mal irgendwo aufgeschnappt hat, als sie im Kafi Felix am Bellevue gedanklich masturbierte, weil sie gerade das Durchschnittseinkommen eines ecuadorianischen Plantagenarbeiters für ein Heissgetränk hingeblättert hatte. Ich weiss es nicht und es ist mir egal. Sie ist mir egal.

Was sie mit ihrem Kind macht nicht. Ich halte Fantasie für eines der wertvollsten immateriellen Güter, die wir besitzen. Ohne Fantasie wäre ein Lied nur eine Aneinanderreihung von Tönen, ein Film nur eine Serie von Bildern, Mode nur Kleidung und Essen nichts als blosse Nahrungsaufnahme. Ohne Fantasie wäre das Leben nicht lebenswert.

Ich hab noch keinen eigenen Nachwuchs. Aber ich werde welchen haben. Mindestens zwei, vielleicht mehr. Kinder, die ich nicht in einer rosaroten Seifenblase aufwachsen lassen werde, die platzt sobald sie mein Haus verlassen. Kinder, die ich früh mit der Realität konfrontieren werde, sofern ich es für verantwortbar halte. Kinder, die ich fördern, belehren und mit allem vollstopfen werde, was sie in meinen Augen wissen müssen. Gleichzeitig aber Kinder, die Kinder sein dürfen – so lange wie sie es für richtig halten. Der Wunsch unbedingt erwachsen sein zu wollen kommt dann eh früh genug, wenn meine Gene auf sie abfärben.

Wenn unser Planet ein unausgefüllter Malbogen ist, sind Fantasien unsere Buntstifte. Wer nicht mit Farbe umgehen kann, soll von mir aus einsam in seiner grauen Einfältigkeit ersaufen. Geht mich nichts an. Wer einem Kind aber die Buntstifte wegnehmen will, kommt bei mir auf die schwarze Liste.

In diesem Sinne: Wenn ein Kind Sie mit einer Petflasche am Ohr anruft, dann gehen Sie gefälligst ran.

Gefällt dir dieser Beitrag?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Autor: Kaspar Isler

Lebt in Zürich. Kommuniziert gerne. Beruflich wie privat. Schreibt aus Überzeugung. Und für Geld. Vorzugsweise kombiniert. Ist Agenturinhaber. Produziert Inhalte. Texte, Fotos und Videos. Vorzugsweise kombiniert. Nutzt und versteht neue Medien. Hat ein grosses Netzwerk. Virtuell wie real. Findet das grossartig. Meistens zumindest. Sucht den Sinn. Mitunter im Sinnlosen. Ist meistens Realist. Manchmal Tagträumer. Ist überzeugt von sich. Und vielen anderen. Toleriert grundsätzlich alle. Ausser sie tolerieren andere nicht.

Facebook Profil

reklame, die wir gerne öfter sähen, heute: penn.

Und plötzlich erreichten die…