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NEIN, DIE GEDANKEN SIND NICHT FREI

„Die Gedanken sind frei. Wer kann sie erraten?“ Dieses Lied durften wir in jener muffigen Primarschul-Stube der frühen 1970er Jahren immer wieder singen. Mindestens einmal pro Woche. Wir haben es gehasst. Unsere Lehrerin hat den Text geliebt und gepriesen. Sie hat ihn zweifellos als Grosstat der Aufklärung verstanden.

Aber sie selbst hat uns oft genug bewiesen, dass schon die ersten beiden Zeilen des Lieds nicht ganz wahr sein können: Sie hat unsere Kindergedanken nämlich ausserordentlich oft erraten, als wären unsere Hirnschalen aus Glas, das Erratene dann auch umgehend geahndet und vor der ganzen Klasse blossgestellt. Sie hat es genau gewusst, wenn der Thomeli während dem Unterricht von Süssigkeiten geträumt hat – oder das Annneli von den Sommerferien – oder das Ursli vom Moneli.

Yep. Sie hat tief in unsere kleinen Köpfe hinein gesehen. Sie hat fleissig dafür gesorgt, dass unsere Gedanken eben keineswegs frei sein dürfen. Und schon gar nicht während dem Unterricht.

Es ist ein Bestandteil der menschlichen Erziehung und aller menschlichen Beziehungen, dass Gedanken eben gesteuert werden können, teilweise sogar gesteuert werden müssen. Im Guten wie im Bösen. Aus dieser Falle kommen wir nicht raus. Und dass du die Gedanken von Leuten, die du kennst, öfter mal erraten kannst, das weisst du selber aus Erfahrung bestens. Darüber muss ich dir ja nix erzählen.

Der Liedtext ist also keineswegs eine aufklärerische Grosstat, sondern eine Verneblung der Tatsache, dass wir Menschlein nicht einmal in unseren Gedanken frei sein dürfen und können. Weil er die Tatsache verneint, dass viele unserer Gedanken eben durchaus gesteuert und von aussen klar lesbar sind, ist der Text sogar ein Manifest für die Gedankenmanipulation. Wir sollen unsere Gedanken lesen, sie von irgendwo her steuern lassen – und dabei fröhlich singend deren Freiheit preisen. Zumutung!

Denn so müssen wir uns nicht mit anderen schmerzhaften Fragestellungen auseinandersetzen, jener nach der Ursache unserer Gedanken, jener Frage nach den Fragen, die sich hinter unseren Gedanken verbergen, jener Frage nach dem wirklichen Stand unserer inneren Freiheit, jener Frage danach, ob wir uns selbst wirklich kennen können – und ob dieses Selbst überhaupt real ist. Über solche Sachen darf man nämlich nicht zuviel nachgrübeln, so man es auf dieser Welt zu etwas bringen will.

Wenn man seinen eigenen Gedanken bis hin zur Quelle folgt, wird man erschüttert feststellen, dass sie so eigen gar nicht sind, dass wir zur Werkstätte, in der unsere Gedanken geformt werden, nur einen limitierten Zugang besitzen. Und auch den Werkmeister, der dort wirkt, nicht wirklich kennen. Wenn man sein ach so privates und intimes Selbst mal genauer unter die Lupe nimmt, wird man merken, dass man es eigentlich gar nicht so gut kennt, dass der ursächliche Hintergrund dieses Selbst in Wirklichkeit unergründbarer ist als der Marianengraben, ja vielleicht sogar als das Weltall.

Das eigene Innenleben ist doch eigentlich alles andere als ein gemütlicher Ort. Wir gewöhnen uns einfach daran, es für vertrautes Territorium zu nehmen. Aber dann werden genau an diesem Ort, in uns selbst eben, Dinge geboren, die uns unendlich leiden lassen, uns ins Unglück stürzen, unser Leben vergiften. Selbst wenn wir es besser wissen, versuchen wir dann immer, die Ursachen für dieses Unglück dem Aussen zuzuweisen. Sobald wir nämlich akzeptieren, dass wir das Unglück selbst hervorgebracht haben, wird unser eigenes Inneres zu einem unheimlichen uferlosen Ort, zu einer fatalen, letztlich unerklärbaren Maschine, deren Antriebskräfte wir nie kennen lernen können. Kurz: Zu einer Geisterbahn!

Manipulation von aussen, von fremden unheilvollen Kräften inszeniert, räumen wir gerne ein. Wir können sie einordnen. Den Umstand, dass wir unser Innerstes selbst weder kontrollieren, noch gedanklich umfassen oder einfassen können, bereitet uns mehr Mühe. Wir haben Mühe, zuzugeben, dass wir uns selbst eigentlich zutiefst fremd sind, unsere Gedanken aus dampfenden Geysiren in uns hervorsprudeln, deren Grund wir weder kennen, noch hinterfragen können.

Vielleicht ist sich eben doch nicht jeder selbst der proverbiale Nächste, vielleicht ist jeder sich selbst ja der Allerfremdeste…

Möglicherweise wären wir gut beraten, uns auf dem inneren Territorium sogar noch vorsichtiger zu bewegen, als wir uns in der Aussenwelt verhalten. Wer ist dieses Ich, dass da diese Gedanken hat? Ist es auch der Produktionsort dieser Gedanken? Oder fühlt es sich nur so an? Sind es wirklich meine eigenen, meine originären Gedanke? Oder haben sie sich aus irgend etwas anderem geformt, dass ich irgendwo gehört, gesehen, gespürt habe? Habe sie sich nur in mir eingenistet? Obwohl sie eigentlich gar nicht zu mir gehören? Und was gehört eigentlich zu mir? Wenn die Gedanken doch frei sollen, warum gibt es dann Gedanken, die mich nicht mehr loslassen? Die mich nächtens nicht schlafen, nicht zur Ruhe kommen lassen? Schöne Freiheit ist das.

Nein. Die Gedanken sind nicht frei. Wir sind alle Sklavinnen (I kinda like this word) und Sklaven (I hate this word). Von Umständen, die wir nicht kontrollieren können. In der Aussenwelt. Und in unserer Innenwelt.

Wir sind Geiseln jener drei Monster, die da das Reale, das Symbolische und das Imaginäre heissen könnten, obwohl sie eigentlich keine Namen tragen, aber eines meiner Idole, Jacques Lacan (1901 – 1981), hat diese Begriffe vorgeschlagen – und mir, für meinen Teil, sagen sie zu. Aus diesem Dreieck gibt es kein Entrinnen. Insofern sind wir der Fatalität komplett ausgeliefert, wie das Opfer dem geübten sadistischen Serienmörder. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und jede Sekunde unseres so genannten Lebens.

Wir haben keine Kontrolle. Und auch noch jenes Ungeheuerlichste, das wir am stärksten abweisen wollen, wohnt in Wirklichkeit ganz und gar urgemütlich ungemütlich in uns selber.

“Deine Gedanken liegen in Ketten. Fast jeder kann sie erraten. Du selbst bist dir nur ein Fremder, ein trauriger Schatten!”

Zudem ist ja auch die Telepathie eine unumstössliche Tatsache. Da ist dann schon gar nix mehr los, mit jener viel gepriesenen Freiheit der Gedanken. – Ach, diese Erkenntnisse verursachen Durst und sexuellen Appetit. Deshalb gehe ich jetzt sofort ne Flasche Strathisla kaufen sowie jenes neue Rape Kit von „Sunnyland Adult Products“, das in der Fachpresse über den grünen Klee gelobt wird. Ich wünsche allen meinen Mitkreaturen einen herrlichen Feierabend.

Und meinen Mietkreaturen natürlich auch…

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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