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Paranoimia

Ich spürte ihn bereits, bevor ich ihn sah. Wir zwängten uns durch den Raverauflauf am Bürkliplatz, pflügten uns eine Gasse zwischen zwei rauchenden, stroboblitzenden und wabbernden Lovemobilen. Eine groteske Vorstellung: Dutzende Menschen eng um uns herum gedrängt, schreiend, lachend, zu den wummernden Bässen tanzend – und doch fühlte ich da irgendwo irgendeinen, der es auf mich abgesehen hatte und mir mit seinen Augen ein Loch in den Hinterkopf brannte.

Minuten später an der Schleuse zum Boot wurde die Ahnung zur Gewissheit. Wir standen in der Schlange, neben vielen bekannten und unbekannten Gesichtern, Menschen, die noch am Vortag Bilder aus ihren Ferien 1000 Kilometer entfernt auf Facebook gepostet hatten und nun leibhaftig wieder in Zürich waren, um ihre in vielen Tagen erarbeitete Erholung in nur 24 Stunden wieder zunichte zu machen. Ich drehte mich um – und stand Angesicht zu Angesicht vor ihm. Der Typ war einige Jahre jünger als ich, gleich gross und grinste unverschämt. Er sah nicht schlecht aus und trug trotz der sengenden Sonne einen auffälligen schwarzen Zylinder, wie ich ihn an der Parade 1994 auch schon hatte. Auch er hatte Plastiksonnenblumen daran befestigt wie ich damals. So wie er mir bekannt vorkam, so war er mir gleichermassen fremd. Er hörte nicht auf zu grinsen.

«Na, auch schon gut drauf?» fragte er mich und zwinkerte mir verschwörerisch zu. «Ähm, ja, na klar», erwiderte ich unmotiviert. Ich lächelte verklemmt und drehte mich wieder zu meinen Freunden. Wer war der Kerl? Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie der Typ anfing zu tanzen. Mit seinen gestreckten Händen wedelte er im Takt auf und ab, die Füsse hüpften vor und zurück – das war ja sowas von Nineties! Ich warf meinen Freunden einen entschuldigenden Blick zu und verdrehte vielsagend die Augen. Sie glotzten mich jedoch nur irritiert an.

Nachdem wir mit viel Geduld die Schleuse passiert hatten, warf ich verstohlen einen Blick zurück, in der Hoffnung, dass der Typ kein Ticket hatte und ich ihn los war. Ich konnte ihn nirgends entdecken – und atmete auf.

Eine gute Stunde später stand ich auf dem Oberdeck, einen Drink in der Hand, betrachtete den vor mir liegenden See und genoss den Wind im Gesicht zum Set von Dani König. Da legte sich ein Arm um meine Schultern. «Mann, wie cool ist das denn, wir zwei zusammen hier..?» Wie um alles in der Welt hatte er es aufs Schiff, geschweige denn aufs Oberdeck geschafft? «Es ist grossartig, dass wir uns hier wieder treffen», meinte er mit glänzenden Augen. Nein, das konnte so nicht weitergehen. «Sorry, jetzt musst Du mir rasch helfen. Du bist..?», fragte ich ihn mit aufgesetztem Lächeln. Er stutzte – und fing dann an laut und hysterisch zu lachen. Den Leuten um uns schien das nichts auszumachen. Na gut, jeder hat so seine eigenen Probleme und der Typ war jetzt gerade meins. «Nei wükli», fuhr ich fort. «Ich kann mich… gerade nicht… erinnern.» Ich weiss nicht, was so lustig daran war, jedenfalls schien ihn das köstlich zu amüsieren. «Na klar kennst Du mich – ich bin doch dein grösster Fan!» Okay, das passierte mir zwar gelegentlich, dass jemand meine Arbeit kannte, aber nicht in solcher Form. «Fan… aha… also von jetzt oder früher..?» «Von jetzt und früher… eben immer schon», grinste er und fing wieder an zu tanzen wie zuvor. Jetzt wurde mir klar, dass die Ähnlichkeit seines Hutes mit meinem von vor 20 Jahren kein Zufall war. Irgendwo tief in meinem Gedächtnis machte irgendetwas Klick. Aber ich konnte es nicht greifen und festhalten. Mein Glas war leer, ich brauchte dringend ein neues – volles!

An der Bar bestellte ich mir was mit Vodka. Und nur für mich, auch wenn mein «grösster Fan» neben mir stand, sich lässig an die Bar lehnte und mich schon beinahe verliebt angrinste. «Gut siehst Du aus – eigentlich wie immer!» gluckste er mir zu. Ich drehte mich ab – und erstarrte für eine Sekunde. Sie, die neben mir an der Bar stand, flashte mich jedesmal, wenn ich sie in der Stadt sah – und so war es auch diesmal. Sie wartete auf ihre Bestellung, bemerkte mich, lächelte mir kurz zu. «Hi» sagte ich und wollte gerade etwas mehr oder (wohl eher) weniger geistreiches sagen – ich hatte sogar schon den Mund geöffnet, als mir der Typ dazwischenfunkte. «Uiuiui, der steht ja voll auf dich!» sagte er zu ihr und reckte seine Daumen hoch. Nein, es war überhaupt nicht peinlich. Wieder setzte ich zum Reden an, was ging mich das Gelaber des Typen an. «Ich kann es ihm nicht verdenken, du bist ja wirklich ein schnuckeliges süsses Ding!» fuhr er fort. Sie sah mich fragend an. Ich hob entschuldigend meine Hände. «Tut mir leid, der Typ… er… ich kenn ihn gar nicht…» Nun sah sie mich erst recht verstört an und in ihrem Gesicht las ich eine Spur von Furcht. Nein nein nein, das lief jetzt alles aus dem Ruder… Und vor allem lief sie davon. «Na danke schön», schnauzte ich den Typen an. «Wofür? Ich hab ja nichts gemacht! Das warst alles Du!» «Kannst Du mich jetzt mal etwas alleine lassen? Darf ich auch noch etwas Privatsphäre haben?» «Hast Du doch! Ich störe ganz sicher nicht..!»

Er klebte fortan an mir wie Hundekot an profilierter Schuhsohle. Als ich mich mit meinen Freunden in Richtung Stauffacher auf den Weg machte, tänzelte der Typ uns hinterher. «Es tut mir wirklich leid», sagte ich zerknirscht zu ihnen. Sie schauten sich nur fragend an. «Ich werde ihn einfach nicht los!» Sie warfen mir besorgte Blicke zu und begannen, miteinander zu tuscheln. Vielleicht würde ja der Türsteher beim Hotel Helvetia mein Problem lösen.

«Wir sind auf der Liste», gab ich ihm zu verstehen. «Also er, sie, sie und ich – aber der da nicht! Er gehört NICHT zu uns!» machte ich klar. Der Türsteher blickte zuerst zu meinen Freunden, die fragend mit den Schultern zuckten, dann mir tief in die Augen. «Du machst aber keinen Stress..?» knurrte er. «Was? Wer? Ich? Niemals!» erwiderte ich empört. Hatte er mich denn nicht verstanden? Nicht ich war das Problem!

Als wir dann drinnen waren, merkte ich, dass sich meine Freunde etwas zurückzogen. Ich hoffte, es hatte nichts mit dem Typen zu tun. Wobei – nachvollziehen könnte ich es schon. Ich versuchte mich abzulenken und zu entspannen und drängelte mich vors DJ Pult, um noch mal richtig zur Mucke von Phil Z’viel abzugehen. Genau das brauchte ich jetzt – und nicht den Typen, der sich plötzlich grinsend zwischen mich und das Girl schob, neben dem ich gerade «zufällig» tanzen wollte. Der Türsteher hatte also voll versagt. Ich unterliess es fortan, mit irgendjemandem zu reden, nicht dass der Typ noch meinen Ruf ruinierte. «Welchen Ruf denn?» meinte er und schlürfte mit grossen Augen an einem Röhrchen. «Spinnst Du? Liest Du jetzt auch schon meine Gedanken? Ich glaube, ich muss nach Hause.» «Gute Idee, ich komm mit.»

Widerstand war ja eh zwecklos, niemand verstand mich oder wollte mir helfen, also ergab ich mich in mein Schicksal und hoffte wenigstens auf eine knallige Blick-Schlagzeile à la «Stalker ermordet sein Idol – und lebt zwei Monate lang mit der Leiche.» Hoffentlich würden die dann die guten, bearbeiteten Bilder aus meinem Facebook-Profil nehmen und nicht irgendwelche alten, auf denen ich aussehe wie in Wirklichkeit.

Ich war müde und wollte nur noch ins Bett. Beim Zähneputzen erkannte ich, was mir unbewusst schon längst klar war. Die Erkenntnis traf mich, als sich der Typ lasziv am Türrahmen rieb und ich ihn im Spiegel vergeblich suchte. «Waf find wir eigentlif?» brabbelte ich mit Zahnpastaschaum im Mund, spuckte ihn aus und fuhr fort: «Dr. Jekyll und Mr. Hide? Oder Fight Club?» «Klar, warum nicht», meinte der Typ. «Wer willst Du lieber sein – Edward Norton oder Brad Pitt?» «Mir egal, solange ich Dir aufs Maul hauen kann…»

Rund 14 Stunden vorher beim offiziellen Drug Checking an der Street Parade:
«Oha lätz – Köbi, wo ist der Typ, der diese dunkelroten Pillen testen liess?»
«Uff, äh, der wollte nicht so lange auf das Ergebnis warten und ist weiter.»
«Heilige Maria und Stärnefoifi. Na der wird dann in ein paar Stunden also sein blaues Wunder erleben. Beten wir lieber rasch…» «Für ihn..?» «Nein für mich – dass wir ihn wieder finden. Dann könnte ich nämlich meine Dissertation über ihn schreiben!»

https://www.youtube.com/watch?v=YubzvkNh77w

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Autor: Henrik Petro

In den 90ern prägte Henrik als Moderator von Sputnik TV trotz seines Ostschweizer Dialektes die Erinnerungen der Partyjugend bis heute. Während mehrere Jahre war er Chefredaktor des gleichnamigen Magazins. Später schrieb er fürs Fernsehen (u.a. Chefautor von Dieter Moor und Rob Spence, eine Folge der SitCom "Fertig Luschtig") und produzierte auch (u.a. 150 Folgen von "Der Scharmör"). Er war die ersten Jahre von Radio Street Parade Musikchef und war dann später einige Jahre Autojournalist.

Arbeitet heute hauptberuflich als Frauenversteher, aber da er von seinen Freundinnen, BFFs, Kolleginnen und wem er sonst noch sein epiliertes Ohr leiht, kein Geld dafür verlangen kann, dass sie ihm ihre Männerprobleme in allen Details schildern, arbeitet er zusätzlich noch gegen Entgelt als Chefredaktor in einem Fachverlag. Damit sein Hirn unter dieser Belastung (und wegen Handy-Antennen) nicht explodiert oder eine Selbstlobotomie durchführt (was ihm zwar die Aufmerksamkeit von Gunter von Hagen garantieren und somit zur Unsterblichkeit verhelfen würde), schreibt er Kolumnen für kult. Am liebsten über menschliche Begegnungen. Oder überhaupt über Menschen. Oder darüber, was Menschen so tun. Oder getan haben. Oder tun könnten. Oder sagen. Oder gesagt haben. Oder sagen könnten.

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