Engels Rodriguez ist 22 Jahre alt und arbeitet als Coiffeur in Rapperswil. Insofern unterscheidet sich der junge Mann nicht von seinen Altersgenossen. Wohlbehütet in Gommiswald SG aufgewachsen hat er aber nie wirklich Erfahrungen mit Drogen oder den Schattenseiten des Lebens gemacht. Hier beginnt die Diskrepanz zu anderen Jugendlichen. In Zürich nimmt jeder Drogen und hat etwas auf dem Kerbholz. Die meisten stammen aus dem Milieu, wurden im Hinterhof gezeugt und auf der Strasse gross gezogen. Aufgeschreckt von diesem Elend, welches in der Weltmetropole Zürich herrscht, hat er nach seinem ersten Aufeinandertreffen längere Zeit keinen Fuss mehr an das verruchte Ende des Zürichsees gesetzt. In Rapperswil ist die Welt noch in Ordnung, schliesslich ist besagtes Flecklein Erde ja das Mäulchen dieses Gewässers – und Zürich das Arschloch. Seit diesem Rencontre mit der Hölle ist in Engels der Wunsch gewachsen, diesen armen Kreaturen da unten etwas Gutes zu tun. Was könnte das sein? Etwas, das er kann und ihnen fehlt?
Eines schönen Tages im Spätsommer 2014 stiess er völlig zufällig auf einen Artikel auf Bild.de und Huffingtonpost.de und auf Welt.de und auf Aktuelle.mobi und auf Joiz.de und Friseur-Job.de und 20minuten.ch. Dieser Artikel beschrieb die rühmlichen Taten des Star-Friseurs Marc Bostos aus New York. AUCH ENGELS IST FRISEUR! Welch glückliche Fügung des Schicksals! Er MUSSTE diesen Artikel zuende lesen. Bostos hat während eines Besuches bei seiner Familie auf den Philippinen, seinem Heimatland, sozial benachteiligten Kindern die Haare geschnitten. Wieder zuhause hat er sich entschieden, dieses positive Gefühl nach New York zu bringen. Seither schnippselt er praktisch jeden Sonntag, seinem einzigen freien Tag, bis zu sechs Obdachlosen den Wuschel auf dem Kopf zu einer stattlichen Haarpracht. Sein einziger Lohn: Die strahlenden Gesichter der Frisierten. Und 209’428 Follower auf seinem Instagram Account.
DAS IST ES! Fuhr es Rodriguez wie der Blitz durch den Coiffeurenschädel. Ich will auch 200’000 Leute, die mich gut finden! Äh, nein… Menschen helfen. Und berühmt werden! Aber in erster Linie die obdachlosen Zürcher zu besseren Menschen machen. Und Likes! Tausende von Likes! Und einen Beitrag zum Weltfrieden leisten. Und so erfolgreich sein wie Valentino und so viel Kohle machen!
So sollte es geschehen. An einem Sonntag, an welchem es nicht garstig nasskalt, sondern spätsommerlich warm war, schnappte er sich seinen Rasierapparat und ein Mäntelchen mit Logo seines Jungunternehmer-Salons und löste am ZVV-Billiee-Automaten am Bahnhof Rapperswil ein Ticket Zürich retour. Heute wollte er sich zurück in die Hölle des Löwen wagen und Grossartiges vollbringen. Da muss sich doch so ein Heruntergekommener finden, der gewillt ist, sich zu Engels› Zweck vom Biest zum Schönen mutieren zu lassen! Einfach wars indessen nicht. Den Alkis schien es ganz wohl zu sein in ihrer Haut und mit ihrer Frisur. Kurz vor dem Aufgeben entschloss sich der Jung-Figaro, zwei nicht ganz so unappetitlichen Typen eine Flasche Trojka zu spendieren, damit sie ihren Kopf für sein Unterfangen herhalten.
Gesagt, getan. Glücklich, diesem Grossstadtsiff wieder entfliehen zu können, sass der sichtlich erleichterte 22-Jährige in der S-Bahn nachhause. Zufrieden kaute er auf seinem McDonald’s Cheeseburger herum: „Jetzt einfach heim, duschen und etwas Vice City gamen. Und dann dem 20 Minuten meine Bilder mailen.
Am nächsten Morgen klingelte bei Familie Rodriguez das Telefon: „20 Minuten, grüezi. Engels Rodriguez, Sie gehen freiwillig auf die Strasse und frisieren Obdachlose. Wieso tun Sie das?“ – „Sicher nicht, um die Leute damit zu beeindrucken. Ich möchte der Welt etwas Gutes tun und dafür die Mittel nutzen, die ich habe. Da ich als Coiffeur Erfolg habe, gebe ich das gern weiter.“
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Referenz:
Das Original: Starfriseur verpasst Obdachlosen einen neuen Haarschnitt (The Huffington Post, 19. August 2014)
Die Kopie: Coiffeur frisiert Obdachlose gratis (20min.ch, 5. November 2014)