Theoretisch – aus einem ethisch kaum bestrittenen Blickwinkel betrachtet – ist ein Menschenleben unbezahlbar. Gerade Regierungsmenschen, renommierte Wirtschaftsleute, die meisten Personen des öffentlichen Lebens halt, würden diese Aussage an jeder Podiumsdiskussion in jedem Fall unterstreichen, und sowieso hier bei uns, in einem relativ sicheren und vergleichsweise extrem wohlhabenden Land, wo die Kacke sich zwar langsam erwärmt, aber noch keineswegs richtigen Dampf abgibt.
Unbezifferbar sei der Wert eines jeden Menschenlebens, Unantastbar die Menschenwürde, unvergleichlich jedes Individuum, jeder meiner Lehrer hat das gesagt, meine Eltern, die Nachbarsfrau, Tanten und Verwandten – mein streitbarer Onkel Fredi, ein guter alter Stalinist, war zwar der Meinung, dass man alle störenden Elemente unkompliziert an die Wand stellen sollte, aber auch er hätte sie im Prinzip unterschrieben, die Aussage, die von der Unbezahlbarkeit eines jeden Menschenlebens berichtet.
Gerne haben wir sie geglaubt.
Wenn nämlich Dein Leben unbezahlbar ist, ist es auch meines. Wenn Du ein einmaliges, unvergleichliches Individuum bist, bin ich es auch. Ja, die hohen ethischen Prinzipien, so könnte man meinen, beschützen uns alle. Voreinander. Und wir vertreten sie deshalb mit mächtigem Elan, wenn auch nur ein Fünkchen jenes Lichts auf uns fällt, das so wir gerne das Licht der Öffentlichkeit nennen.
Obwohl ich persönlich „die Finsternis der Öffentlichkeit“ für die stimmigere Metapher halten würde…
Die Unantastbarkeit des Lebens, der Menschenwürde, des Individuums, jener Teil der Menschheit, der sich für aufgeklärt hält, hat sich diese Werte auf die Flagge geschrieben. Als Selbstverständlichkeiten. Und ich habe es damals geglaubt, gerne geglaubt, damals im Schutz des Elternhauses – und sogar noch während etwa der Hälfte meiner Primarschulzeit….
…bis die böse Welt über mich hereingebrochen ist.
Sie wissen es? Oder nicht? Sie kennen doch die Realität…? Ein Menschenleben ist im Grossen und Ganzen gesehen einen feuchten Scheissdreck wert. Natürlich gibt es, wenn bestimmte Leute sterben, glückliche Leute sterben, Leute, die andere Leute kennen halt, für einige Zeit tiefe Trauer, unter Liebespartnern, Verwandten – vielleicht nicht ganz allen Verwandten –, Freundinnen und Freunden.
Aber dort, wo Entscheidungen von so genannt grosser Tragweite gefällt werden, dort, wo die dicken Geschäfte wohnen, dort, wo mit dem Regierungslöffel im Menschenfleischtopf gerührt wird, überall dort, wo über andere Leute verfügt wird, oft unter Inkaufnahme harter Konsequenzen für ebendiese Leute, spielt die Würde eines Individuums überhaupt keine Rolle, der Wert seines Lebens lediglich eine minimale, die im so genannten Ernstfall geschwind zu schrumpfen beginnt, bis sie gerade noch als Cameo-Auftritt taugt. Und am Ende wird sie ganz aus dem Film geschnitten.
Ohne jegliche Sentimentalität.
Gerade die Entscheidungsträgerinnen und -träger, die Verfügerinnen und Verfüger, gerade jene, die im so genannten Ernstfall zum Zuge kommen, werden es singen, wenn sie auf irgendeiner Bühne oder Rampe stehen – oder auch nur auf einem umgedrehten Waschzuber –, das Hohelied von der Unbezahlbarkeit des Menschenlebens, jenes auf die Menschenwürde, das Individuum, die Bürgerin, den Bürger, jene, die Steuern zahlen, die Familie und so weiter….
Auch wenn sie bloss eine Stunde zuvor beispielsweise eine Umstrukturierung gut geheissen haben, die hunderte von Menschen ihre Arbeitsstellen kosten mag, darunter vielleicht viele, die über 50 Jahre alt sind, sich wohl als Sozialfälle durch ihr restliches Leben schlagen müssen; sie werden es singen, auch wenn sie eine Stunde zuvor nur eine Entscheidung gefällt haben, die wahrscheinlich den einen oder anderen Suizid auslösen wird, am Ende der betroffenen Menschenkette, sie werden es trotzdem singen, das schöne Lied von der Unbezahlbarkeit des menschlichen Lebens.
Und warum sind sie sich dabei keines Widerspruchs bewusst?
Weil eben ein so genannter Ernstfall eingetreten ist, der Massnahmen verlangt. Und wie sieht dieser Ernstfall bei einem derartigen Szenario zumeist aus? Es wurde weniger Geld verdient, für die abgreifenden Mächte im Hintergrund, bei denen es sich ausnahmslos ebenfalls um Menschen handelt, um Menschen allerdings, die finanziell auf ausserordentlich sicheren Beinen stehen, gemessen an jenen, die von der Umstrukturierung betroffen sind.
Objektiv gesehen sogar auf ganz schön prächtig sicheren Beinen stehen. Die abgreifenden Mächte selber, das muss man ihnen lassen, sehen das sicher anders… „Diffenzierter.“
Ein Menschenleben ist also unbezahlbar, ein Individuum unantastbar, ausser dann, wenn es darum geht, die Profite von Leuten zu maximieren, die sowieso schon übermässig gut verdienen. Wenn dies so ist, drängt sich der Verdacht auf, dass die Worte „unbezahlbar“ und „unantastbar“ in Tat und Wahrheit für etwas anderes stehen, nämlich für „spottbillig“ und „zum Abschuss freigegeben“.
Wie ich vor langer Zeit als Schüler am Pro-Gymnasium sein musste, ist mir etwas aufgefallen. Bei den endlosen moralischen Diskussionen, die unsere freundlichen linken Lehrer, ausgestattet mit ihren Schnäuzen, Bärten und den braunen Manchester-Hosen, die Lehrer der Seventies halt, mit uns Kids im Klassenzimmer geführt haben, waren immer genau jene Schüler besonders aufmerksam, humanitär, moralisierend unterwegs, die dann auf dem Pausenhof gewohnheitsmässig Mobbing betrieben, am härtesten auf die Klassentrottel und andere Schwache einzuprügeln pflegten, verbal und physisch.
Mit Engelszungen haben sie geredet, während des Unterrichts, die Arschlöcher und Westentaschennazis des Schullebens.
Wahrscheinlich sind genau diese Individuen heute alle in verantwortungsvollen Positionen gelandet, in der Regel waren sie nämlich gut in der Schule, jaja, Streber und Heuchler halt, in Positionen, wo man Entscheidungen trifft, Massnahmen beschliesst, zugunsten der Reichsten, zulasten der Ärmsten…
Denn sie haben es begriffen, schon früh im Leben, die Leute werden gerne angelogen, also lügt, wer Erfolg im Leben haben will, singt uns das Lied von der Menschenwürde – und beschliesst dann hinter verschlossenen Türen die einschneidensten Massnahmen, die vielen Menschen so richtig weh tun, weil halt der so genannte Ernstfall eingetreten ist, dessen Hintergrund Profitmaximierung heisst. Und heutzutage herrscht eigentlich der permanente so genannte Ernstfall. Vor allem bei jenem einen Prozent der Menschen, die bald über mehr Geld und Werte verfügen, als die restlichen 99 Prozent der Menschen zusammen.
«Dein Leben ist unbezahlbar», flüstern sie Dir noch zum Abschied ins Ohr, bevor das Fallbeil niedersaust – und schlagkräftig beweist, dass ein Menschenleben einen feuchten Dreck wert ist. Auch meins, auch Deins.
Und wir glauben es trotzdem. Sogar dann noch, wenn wir den frischen Windhauch spüren, unmittelbar bevor uns die tödliche Klinge ins Genick fährt – Rrrratsch –, jenen frischen Windhauch am Hals, von dem Joseph-Ignace Guillotin (1748 – 1814) so selig geschwärmt hat, bei jener eloquenten Präsentation seiner anscheinend so schmerzlosen Tötungsmaschine, vor einem Publikum, das aus adligen Herrschaften, aus Entscheidungsträgern jener Zeit bestand.
Letzteren wäre es gewiss auch egal – oder gerade recht – gewesen, wenn die Maschine ihren Opfern einen schmerzhaften Tod bereitet hätte, denn sie wussten: Ein Menschenleben hat nicht einmal so viel Wert wie die Materialien, aus denen unsere sterblichen Leiber bestehen, also fast nichts – und damals sowieso nicht, denn Organhandel hatte noch keine Bedeutung.
Dergestalt haben die Mächtigen schon immer gedacht, gefühlt, agiert, von verschwindend wenigen Ausnahmen abgesehen. Und wir, Du und ich, sind das Vieh. Das Menschenvieh. Deshalb sind wir sentimental. Doch wenn wir dort oben stehen würden, in einem Zentrum der Macht, getragen von warmen Finanzwinden – wie würden wir dann empfinden?
Seit Jahren lese ich in Zeitungen und Zeitschriften ja immer wieder diese Artikel, die eben darüber sinnieren, wie hoch denn nun der reine Materialwert eines Menschen sei. Natürlich werden diese Artikel allesamt aus rein wissenschaftlichem Interesse und unter Anfügung von allerlei wissenschaftlichem Krimskrams geschrieben. Natürlich beginnen die Schreiberinnen, die Schreiber derartige Geschichten immer mit einigen Sätzen, welche das Menschenleben im Grundsatz als unbezahlbar preisen und die Menschenwürde feiern, die sie dann sogleich ausser Kraft setzen, um im weiteren Textverlauf wohlig über den monetären Wert des Körpermaterials zu spekulieren. Der niederste Betrag, von dem ich in diesem Zusammenhang je gelesen habe, lag bei knapp zwei Franken, der höchste bei 82 Millionen Franken (unter Berücksichtigung des Organhandels uns so weiter).
Das sind doch mal realistische Ansätze. Nur: Wollen wir damit leben? Oder sterben?
Und den Faktor Krieg habe ich ja noch nicht einmal angeschnitten. Aber Krieg ist ja nun doch ein echter Ernstfall, nicht bloss ein so genannter. Da muss doch der Wert eines Menschenlebens ein klein wenig zurück treten.–
Denn Krieg wirft todsicher noch traumhaftere Gewinne ab – als noch die schönste Profitmaximierung in einer Firma, durch Personalmigration, wie aufgeklärte Zeitgenossinnen und -genossen Massenentlassungen heute zu nennen pflegen. Für wen? Na, für jenes oben erwähnte eine Prozent der Menschen natürlich. Verflucht sei dieses eine Prozent, das die wahren Regeln der Existenz auf dieser Erde kennt. Und lebt…
Moment mal, ein Prozent, ein Prozent, ein Prozent der Weltbevölkerung, da gehöre ich als Schweizer am Ende noch dazu…
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