Müdes kleines Strassen-Café. An der Kreuzung zwischen Sein und Nichts gelegen. Wer hier sitzt, kann das Reale und das Irreale gleichzeitig im Auge behalten. Eine privilegierte Position. Aber auch eine fragwürdige, die einer nihilistischen Geisteshaltung immerhin aufs keineswegs aller-unangenehmste entgegen kommt. Deshalb bin ich Stammgast…
…und beileibe nicht der einzige.
Die hiesige Kundschaft sieht ja alles andere als gesund aus. Und irgend jemand könnte sich die Bemerkung erlauben, dass wir Stammgäste alle von gleichen Schlag seien. Dies würde ich jedoch keineswegs unterschreiben. Denn ich gehöre keinem Schlag an. Vielmehr habe ich einen Schlag nach dem anderen kassiert. Von jener Ungeheuerlichkeit, die gemeinhin mit dem Euphemismus Leben umschrieben wird.
Grünlicher Teint, wuchernde Hautausschläge an Gesicht und Händen, kreisrunder Haarausfall, stark vereiterte Zahnlücken, blutunterlaufene Augen, solche Zerfallszeichen gehören in diesem Café zum guten Ton, sind hier Statussymbole im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie zeigen in der Tat einen Status an: Tief unter Null. Wir tragen Kleider, die schon bessere Tage gesehen haben, rauchen Kette, husten, röcheln, wir kratzen uns unentwegt überall, kratzen uns blutig, wir spucken dicke, schleimige, grau-braune Auswurfsflocken unter die Platiktischchen. Dies alles kümmert hier niemanden.
Denn in diesem kleinen Strassen-Café wird niemals geputzt. Nicht ganz schlecht so!
Ernesto, der Ober, bewegt sich langsam, mit schlurfendem Schritt. Zeitlupe nimmt sich im Vergleich dazu wie Mach 1 aus. Er verabscheut jene Gäste weniger, die hin und wieder einen Espresso oder einen Kaffee bestellen. Und es stört ihn keineswegs, wenn wir diese schwarze Brühe mit unseren mitgebrachten billigen Schnäpsen aus dem Megamarkt veredeln. Denn auch Ernesto weiss, dass sie ansonsten ungeniessbar wäre.
Ernesto selbst wird nur ungeniessbar, wenn jemand etwas Ausgefallenes ordern will: Tee zum Beispiel oder Sirup oder schlimmstenfalls etwas zum Essen. Wobei letzteres nur von Ortsunkundigen gemacht wird. Oder von Leuten, die noch lebensmüder sind als wir Stammkunden des kleinen Strassen-Cafés.
Nun sitze ich wieder einmal hier. Und lese freudlos in meiner dicken, gerade noch hinreichend aktuellen Ausgabe der «Monatsblätter für angewandte Misanthropie». Ich bin beim Aufmacher angelangt. Einem ausgedehnten Leitartikel. Vom Edelkugelschreiber des Hauses; Titel: „Hasse Deinen Nächsten wie Dich selbst». Irgendwie kann ich mich auf den Text nicht richtig konzentrieren. Denn da stehen nur Sätze, die auch ich den ganzen Tag lang im Kopf vor mich hindrehe. Seit Jahrzehnten. Oder sind es schon Jahrhunderte?
Egal.
Also schweifen meine Augen vom Blocksatz ab. Ins Sein zunächst. Dann ins Nichts hinüber. Und schliesslich schaue ich mir wieder einmal beide Aggregatzustände zugleich an. Eine Aussicht, die alles relativiert.
Ich belausche das Gespräch am Nebentisch. Es ist langweilig. Aber das ist für mich stinknormal. Bei den Sprechenden handelt es sich um eine Frau und einen Mann. Sie sind ganz offensichtlich kein Liebespaar. Sie sehen mittelschlecht aus. Besser als ich jedenfalls. Bei mir ist der Zerfall glücklicherweise schon weiter fortgeschritten. Ihr Alter wird wohl im mittleren Bereich liegen. Ihre Stimmen klingen mittel-laut. Ihre Worte reihen sie langsam aneinander. Mäandernde Sätze. Klangdynamik: vollkommen desinteressiert.
Zwischen den Gesprächsmomenten klaffen ausgedehnte Zeitlücken. Dergestalt reden wir halt miteinander. Im Niemandsland. Zwischen dem Realen und dem Irrrealen.
Ich kenne die Beiden. Vom Sehen her. Sie sind auch Stammgäste hier. Wenn sich unsere Wege kreuzen, nicken wir einander zu. Sie nennen einander Wiwi und Salbi. Das sind wohl Spitznamen, die womöglich aus längst vergangenen Pfadfindertagen stammen. Aus besseren Zeiten. Vielleicht. Wenn es je bessere Zeiten gegeben haben solle. Ich hege da meine Zweifel.
Ihre bürgerlichen Namen kenne ich nicht. Ich interessiere mich auch nicht dafür.
Genausowenig, wie für das Gespräch, das sich mir ja nur deshalb aufdrängt, weil mein Gehör einigermassen gut funktioniert. Noch. Für einen massiven Gehörsturz wäre ich nicht ganz undankbar. Dann hätte ich mehr Ruhe.
Wiwi: „Ich habe mich nun also für diese Stelle beworben.“
Salbi: „Und? Haben sie Dich genommen?
Wiwi: „Nein. Natürlich nicht.“
Salbi: „Nicht ungut.“
Wiwi: „Warum sagst Du das?“
Salbi: „Weil Du die Probezeit sowieso nicht überstanden hättest. Die hätten Dich nach kürzester Zeit wieder auf die Strasse gestellt. Weil Du nichts kannst…“
Wiwi: „Stimmt schon. Und bis jetzt war es immer so.“
Salbi: „Eben.“
Gesprächspause. Plötzlich ein Geräusch.
Vom Sein her kommend geht hier gerade einer dem Nichts entgegen. Er hat einen Rollkoffer dabei, der beim Fahren gehörige Geräusche verursacht. Die quietschenden Rädchen des Dings reissen zudem den Asphalt des Gehsteigs auf. Tiefe Furchen.
Das stört hier alles keinen.
Wiwi: „Hast Du Deinen Antrag auf schmerzlosen Freitod jetzt endlich eingereicht?“
Salbi: „Ja. Aber er wurde abgelehnt.“
Wiwi: „Ojeh.“
Salbi: „Stört mich nicht. Ich kenne das Gefühl. Es ist wie damals, als meine Bilder nicht in die grosse Karfreitagsausstellung des Kulturkredits aufgenommen wurden. Mit dem Jury-Vermerk – unsagbar schlecht…“
Wiwi: „Oder wie ein paar Jahre zuvor. Als Du nicht zum Vorstandspräsidenten des Schreberschlachthofs hinter dem Genossenschaftsbau gewählt worden bist. Das hast Du ja auch nicht allzu miserabel verdaut…“
Salbi: „Ja. Aber Du kennst das immerhin selber. Du bist damals auch nicht in den Chor der Klageweiber des Friedhofs am Stadtrand aufgenommen worden…“
Wiwi: „Stimmt. Als ich vorklagte, im Rahmen der Aufnahmeprüfung, haben mich die Expertinnen ausgelacht. Ich fand das zwar nicht besonders lustig. Aber gestört hat es mich auch nicht…“
Gesprächspause. Plötzlich ein extrem lautes Geräusch.
Fünf ballistisch reichhaltig bestückte Panzerwagen brechen gerade aus dem Nichts ins Sein hinein. Die werden heute Abend wohl wieder zurückfahren. Mit reicher Beute im Tank.
Mir soll es recht sein!
Salbi: „Das war bei mir seinerzeit ähnlich. Als ich dann doch nicht geheiratet habe. Sie hätte es mir zwar ein Stündchen oder so vor der Zeremonie sagen können, die süsse Gwendolyne. Anstatt mir, dem Pfarrer Zahn und der ganzen Traugemeinde ein schallendes Nein entgegen zu schleudern, den Blumenstrauss auf den Boden zu werfen und die Kirche zu verlassen, fluchend, fluchtartig…“
Wiwi: „Jaja. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Draussen hat dann schon jener Berti Diggmann auf sie gewartet. Mit seinem Alfa Romeo. Aber Du hast gut reagiert. Hast Dir nichts anmerken lassen. Und einfach schön ins Leere gestarrt. Über 43 Minuten lang. Das hätte ich fast ein bisschen bewundert, wenn ich zu solchen Gefühlen fähig wäre.“
Salbi: „Du weisst ja, wie es ist. Man gewöhnt sich an alles. Und wir beide haben uns doch bereits seit frühesten Kindheitstagen mit all jenen fürchterlichen Niederlagen abgefunden, die sich seither aneinanderreihen. Wie Kettenperlen.»
Wiwi: „Das ist eben das keineswegs ganz und gar Schlechte. Deshalb streben wir nach nichts. Deshalb geben wir nichts. Deshalb ist bei uns nichts zu holen.“
Salbi: „…und deshalb müssen wir auch keine Angst haben. Wer nichts hat, kann auch nichts verlieren.“
Wiwi: „Ja… Ja…“
Ich könnte nicht sagen, dass ich jenes müde kleine Strassen-Café lieben würde, das da an der Kreuzung zwischen Sein und Nichts liegt. Denn für mich ist eigentlich alles Existierende schrecklich; ich selbst, die anderen Leute, die Welt, das Leben, das Universum und der ganze Rest. Aber hier, in diesem Café, finde ich es fast am wenigsten unerträglich. Denn an diesem Ort machen die Leute nichts. Sie verlangen nichts. Deshalb müssen sie einander auch nichts vorlügen. Fast könnte man sagen, dass Leute wie Wiwi und Salbi die besseren Menschen wären, wenn es denn ein Fünkchen im Menschen gäbe, das auch nur annähernd so etwas wie gut sein könnte.
Hier darf ich sein. Hier stört mich keiner. Hier ist die Aussicht nicht ganz uninteressant. Also winke ich Ernesto. Mit so wenig Kraftaufwand wie nur möglich. Er nickt mir müde zu. Er hat verstanden. Ich weiss, dass es bereits dunkel sein wird, hier im Niemandsland zwischen dem Realen und dem Irrrealen, wenn er mir die Brühe endlich auf mein Platiktischchen stellt…
Scheiss drauf. Mir egal. Sowas von.
Da erscheint langsam ein Gedanke in meiner rostigen Hirnmühle. Es dauert einen beträchtlichen Moment…
…bis er aus der Unschärfe auftaucht, so dass ich ihn fassen kann. Aber jetzt ist er da: In all’ den Jahrzehnten, seit ich halt hier verkehre, habe ich noch nie ein Wort mit Ernesto gewechselt. Ja, ich habe noch nie seine Stimme gehört. Wenn ihn jemand ärgert, schlägt er einfach zu. Wortlos. Letal.
Wahrscheinlich ist er so stumm wie ein dicker brauner Abflussrohrfisch.
„Würde zu ihm passen…“, denke ich noch. Und vertiefe mich wieder in meine dicken Monatsblätter für angewandte Misanthropie.
Wie hatte es einst der nicht ganz unbedeutende Referent – und Autor der recht passablen Schrift «Dieser Sinn ist mir zu dunkel“ – Carl Hiob Schnauzh ausgedrückt, nicht komplett unzulänglich, so wie man eine Krebsspargel im Aschenbecher ausdrückt halt? „Wer seine Unzufriedenheit in die Welt hinausträgt, wird lediglich Unzufriedenheit ernten. Und wer etwas will, ist immer unzufrieden, schliesslich hat er es nicht.“
Deshalb wollen wir Stammgäste des Strassen-Cafés eben nichts. Und die Welt würde wohl bloss dann einen nicht ganz so schlechten Ort darstellen, wenn es bei Euch allen auch so sein könnte…
Aber wirklich gut wäre sie halt trotzdem nicht!
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