Es war kein schönes Erlebnis, das wir gestern miteinander hatten. Sicher hast du deinem Mann abends von der Verrückten im Zug erzählt. Mag sein, dass ich ein bisschen überreagiert habe. Sonst hätten mir die hart tätowierten Bauarbeiter, die mit ihrem Bier im Nebenabteil sassen, wohl nicht zugeprostet. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass du angefangen hast.
Ich hatte mich für ein kurzes Nickerchen in einem leeren Viererabteil hingelegt und so zwei Sitze besetzt. Trotzdem hättest du deine Tasche nicht auf meine Füsse knallen müssen. Und trotzdem hättest du mich nicht anfahren müssen, ob ich zwei Bahnbillette gelöst hätte. Vor allem, nachdem du dann deine eigene Tasche auf den leeren Sitz neben dich stelltest.
Weisst du, ich bin Pendlerin. Wir Pendler stehen meist früh auf, arbeiten den ganzen Tag und schlafen dann auf der Heimfahrt manchmal im Zug. Sich in einem vollbesetzten Zug hinzulegen ist natürlich asozial, aber der Zug gestern war halb leer. Und selbst wenn es ab Stein-Säckingen oder wo du und die paar Leute noch zugestiegen sind, eng geworden wäre, hättest du mich auch höflich fragen können, ob der Platz noch frei ist. Ich hätte mich sofort dünn gemacht. Stattdessen hast du mir deine Tasche auf die Füsse geknallt und herumgenölt. Das ist unhöflich. Wie die Leute, die zu früh einsteigen und sich dann nerven, wenn noch welche aussteigen.
Ich bin nicht stolz darauf, dass ich so ausgeflippt bin. Aber du hast mich aus dem Schlaf gerissen. Und mag man es nicht, einem selbstgerechten Idioten ins Gesicht schauen zu müssen. Besonders nicht ein deines, frag mal deinen Mann. Zuerst wollte ich ganz brav sein und legte ich mich, nachdem ich festgestellt hatte, dass es ja genug Platz gibt, wieder hin.
Aber deine Taschenattacke hatte mich erschreckt. Und Schrecken führt beim Menschen zu Adrenalinschüben, was wiederum zu aggressivem Verhalten führen kann. Ich denke, mit Aggressionen kennst du dich aus. Aber ich möchte dir etwas verraten: Wer auf jemanden losgeht, muss damit rechnen, dass etwas zurückkommt. Mein Freund sagt immer: “Ich suche keinen Ärger. Aber wer ihn haben will, kann ihn haben.” Ein gutes Motto, finde ich,
“Sprichst du mit mir?” fragte ich und guckte links und rechts. Das war natürlich eine Anspielung auf Taxidriver , was dir entgangen sein dürfte. Sonst hättest du dir vielleicht einen anderen Platz gesucht. Ich sagte: “Hallo? Willst du mir etwas sagen? Was willst du mir genau sagen?” Und dann fragte ich dich, ob du selber zwei Billette gelöst hast, da ja deine Tasche auf dem freien Sitz steht. Ich muss laut gesprochen haben, denn aus den hinteren Abteilen sah ich Köpfe aufsteigen, wie Monde über dem Meer, nur um dann schnell wieder abzusinken. Zuerst hast du sogar noch zurückgegeben. Sagtest, wir seien nicht per du und ich gab zurück, ich würde dich duzen so lange es mir passt. Ich habe dir den „Blick am Abend“ aus der Hand gerissen, den du lesen wolltest und den ich mitgebracht hatte. „Der gehört mir!“, sagte ich. Vielleicht habe ich auch gebrüllt. Irgendwann hast du nichts mehr gesagt und nur noch angestrengt weggeguckt. Immerhin, du hast dein Terrain nicht preisgegeben, während ich schnaubend dasass und darauf hoffte, dass du mir noch mehr Widerworte gibst.Die Bauarbeiter prosteten mir grölend zu.
Vielleicht habe ich ein bisschen überreagiert, mag sein. Aber ich finde, du hast es verdient. Vielleicht denkst du das nächste Mal daran, bevor du einer Fremden im Zug deine Tasche auf die Beine knallst.
Herzlich, Deine Michèle