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DEEP SOUTH-NOTIZEN (I): NUDE ON THE TRACKS

Hundert Güterwagen zieht die schwere Lokomotive durch das weite Land. Unter der Sonne von Mississippi. Diese Lok ist eine echte Lady, eine gute alte Südstaaten-Walküre. Die Lasten, die ihr wohlgerundeter Leib durch die Hitze schleppt, zieht sie offensichtlich mit beneidenswerter Leichtigkeit.

Yes Ma’am, sichtlich vergnügt ist sie damit beschäftigt, auf den rostigen Schienen vorwärts zu eilen, alles andere als geräuschlos, durch die Felder, denen einst der Blues entsprungen war, immer dem Horizont entgegen.

Der reine Schauer des Vorwärts ist ihr Lebenselixier.

Und manchmal entfährt ihr ein ekstatischer Pfiff, einem orgiastischen Schrei gleich, der allen, die ihn hören, jenes Fernweh in die Herzen zaubert, das keine spezielle Zielrichtung kennt. Es spricht bloss von einem unstillbares Verlangen; hinfort, hinweg, lass uns die Galaxis wechseln, nachdem wir unsere Planeten gründlich umrundet haben…

…deinen und meinen, Baby.

Früher waren solch unendliche Güterkombinationen Dauergäste in diesem Bundesstaat der USA, der heutzutage – mit seinem Nachbarn Alabama zusammen – regelmässig auf die letzten Plätze fällt, in fast allen Belangen, am Ende aller Erfolgslisten in Sachen Materialismus, welche über die hiesigen Staaten jährlich geführt werden.

Arm, arm, arm – und doch so fruchtbar, so gesegnet, doch so reich…

Heute sind die Durchfahrten der Güterzüge seltener geworden. Du hörst hier wohl öfter einen Blues-Harp-Spieler, der den berühmten Lokomotivenpfiff, diesen Schrei der Freiheit,  imitiert, öfter eine Gitarre, die das Rattern der Zugkombination nachempfindet, als die Originalgeräusche selbst, die vielleicht so ein-, zweimal am Tag durch die aufgeheizte Luft vibrieren.

Und wenn du sie mal nachts hören solltest, wird dich das Fernweh umso stärker würgen, als hätte sich Damballa, mächtige Schlange des Voodoo, um deinen Hals gelegt…

Doch diese Seltenheit hat sie nur noch erhöht, jene geheimnisvolle Aura des Mystery Train, den Junior Parker einst so unvergesslich besungen hat, des Night Train to Mississippi, dem James Cotton mit seiner Harp ein Denkmal setzte, dieses durch und durch ominösen Train eben, der uns aus dieser „lonesome town“ wegbringt, weg von diesem „big boss man“, weg von dieser „cold hearted woman“, weg von diesem „no good cheatin’ husband“, uns in eine bessere Zukunft trägt, die vielleicht nicht mehr ganz von dieser Welt sein wird…

So selten sind die Durchfahrten der Züge geworden, dass sich hier jede und jeder Reisende in Sachen Blues posierend auf die endlosen Schienen setzen, legen, stellen kann, die diese Landschaft durchziehen wie Lebensadern, solange ihm oder ihr halt danach ist; für ein Foto mit Mystery-Train-Flair. Ohne Zahl sind gerade auch jene Fotos, auf diesen endlosen Schienensträngen geschossen, die nackte Damen zeigen.

Diese Bilder haben ein ganz spezifisches Flair, das schon der gute alte Russ Meyer (1922 – 2004) in seinen Filmen zu feiern wusste, man denke nur an Raven auf den Schienen in „UP!“ (1976). Aaaaaah! Natürliche Kurven aus unbezahlbarem Fleisch, handywork of The Lord. Kontrastieren so reizvoll mit rostigen Schienen aus Metall, von Menschenhand gelegt. Unter einem grenzenlosen Himmel, manchmal blau, manchmal von Sternen übersät. In der endlosen Weite des Heartland of them Blues; wunderbar.

Das ist doch mal ein Fetisch der die Menschheit voranbringt. Und jede echte Lady hat schliesslich etwas von einer unbändig vorwärts-drängenden, unaufhaltsamen Lokomotive an sich, dann erst recht, wenn sie Dampf ablässt.

Seit Jahren schon zieht es mich in den tiefen Süden der USA, nach Tennessee, Mississippi, Louisiana. So oft wie möglich.

Immer die gleiche Reise. Aber immer wieder total anders. So wie der Liebesakt, der ja auch immer – irgendwie – gleich ist. Aber immer wieder total anders.

Es ist die alte Sirene Musik, die mich hierher lockt, Delta Blues, Country Blues, Electric Blues, Rhythm&Blues, Soul, Funk, Zydeco, es sind die Seelenlandschaften, die diese Töne, diese Rhythmen und Gesänge hervorgebracht haben. Klänge und Poesie, rein wie Baumwollblüten, dreckig wie ein kapitaler Alligator, der sich im Sumpf wälzt…

…dazwischen erstreckt sich die ganze Bandbreite des Lebens; das Sagbare und das Unsagbare.

Denn der Blues erzählt nicht einfach von Gefühlen. Wie viele Folk-Songs dies tun. Er ist das Gefühl! Er ist selbst das Gefühl an sich: Er ist durchdrungen vom Wehklagen geschundener Sklaven, vom Jammern, das auf den endgültigen Abschied von einer grossen Liebe folgt, er frohlockt aber auch, wenn ihm eine fröhliche Big Legged Momma unter die Augen kommt, er ist aber auch erfüllt vom erlösenden Triumph, der nach einer guten Nummer eintritt, geschoben mit einer Partnerin, mit einem Partner, auf die oder den du es schon lange abgesehen hattest, er kennt aber auch das Stossgebet, das von einem kleinen Menschlein empor geschleudert wird, in Richtung eines allmächtigen Gottes, in höchster Not…

…und er kennt die tiefe Ungewissheit, die in solchen Fällen auf jedes „Amen“ folgt.

Der Blues schimpft und lacht und protestiert, er ist Rebellion, Mässigung, Erlösung, Situationskomik, Alkohol, Krankheit, Genesung, Todeskampf, Ausschweifung, Niederlage, Erotik, melancholische Malaise. Und einen satten Lotteriegewinn – der dann sofort im nächsten Juke Joint auf den Kopf gehauen wird – umfasst er sowieso.

Er umarmt dich nicht nur, er dringt in dein Innerstes vor, egal, ob du arm oder reich bist, gross oder klein, dick oder dünn, Mann oder Frau, er lügt dich nicht an…

Weil er nicht heilig sein will oder allwissend, weil er kein Massstab sein will, keine Urteile abgibt, keine mythologische Reinheit anstrebt, ausser jener eines ganz persönlichen Ausdrucks, der jedem einzelnen Menschenkind zu eigen ist. In diesem Sinne ist der Blues dem Teufel ab dem Karren gefallen – und ich sage Euch, selbst in seinem Gospel-Sonntagskleid muss er seinen Sex nicht verleugnen, denn auch der Sex wurde schliesslich von diesem bekannten Demiurgen namens The Lord geschaffen, der eines Tages alles „right“ machen wird; und zwar „somehow“…

Yep Ma’am, tief unten, im Deep South – da gibt es Luft, Feuer, Wasser, Blues, Erde…

…und ich habe einen gut gefüllten Flachmann in der einen, meine kleine Kamera in der anderen Hosentasche, dazwischen regt sich ebenfalls einiges, erwartungsfroh, weil ich die liebe Evangeline gerade am rechten Arm zu den Eisenbahnschienen, den Railroad Tracks hinan führe.

Ich bin mir nämlich sicher, dass auch ihre Kurven einen reizvollen Kontrast zu den rostigen Tracks abgeben werden: cause she’s mighty, mighty – and she’ll be lettin’ it all hang out… Hellelujah!

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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