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FREIHEIT

Die Wachtürme sind eingestürzt. Endlich. Gestern Nacht. Kugelblitze, aus schwarzen Wolken hernieder fahrend, wirkten gleichsam als Abrissbirnen, die diese Symbole der Tyrannei zerstört haben, zerstäubt haben. Mit Mann und Maus. Nun stehen sie uns nicht mehr vor der Sonne.

Die bösen, strengen Augen, die uns Tag und Nacht beobachtet hatten, wurden gewaltsam geschlossen; Mutter Natur sei Dank. Die Schergen, die jede Nacht in unsere Stadt heruntergekommen waren, Männer, Frauen, ganze Familien aus ihren Wohnungen geholt, mitgenommen haben (man hat diese Menschen danach alle nie mehr wieder gesehen), sind nun endlich tot, gefallen mit ihren Wachtürmen.

Die Morgenröte hat uns heute Freiheit mitgebracht. Das schönste Geschenk. Freiheit, von der wir intensiven, ja uneingeschränkten Gebrauch machen werden, so viel ist sicher.

Lange genug haben wir unter der Peitsche gelebt; registriert, kontrolliert, drangsaliert. In unseren Stuben, unseren Küchen, unseren Schlafzimmern, ja unter unseren Bettdecken haben sie uns beobachtet. Seit Menschengedenken. 36 Stunden am Tag. Wir leiden also unter Nachholbedarf. Lechzen nach Freiheit.

Wie der sprichwörtliche Verdurstende in der Wüste nach Wasser lechzt.

Bis in die letzte Bewegung hinein reguliert, bis hin zur letzten Regung präfiguriert ist es gewesen; unser tägliches Leben. Im Schlagschatten jener Tyrannei der Wachtürme.

Alle Bürgerinnen und Bürger mussten zu jeder Stunde genau das tun, was – unter Androhung drakonischer Strafen – vorgeschrieben war. In der tausendseitigen Stadtordnung, die schwer zu lesen, schwer zu verstehen, jedoch absolut bindend gewesen ist.

Die Versuchungen des Lebens und des Leibes seien zu vielfältig, haben die dort oben uns stets gewarnt: Wenn alle ihnen nachgehen würden, könne die Stadtgemeinschaft keinesfalls überleben. Ins Chaos täten wir alle stürzen, so wir unsere Launen und Lüste auslebten. Deshalb sei absolute Unterordnung oberstes Gebot. Ein Stadtwesen könne nur dann gedeihen, wenn sich alle Bürgerinnen und Bürger, klein und gross, den strikten Gesetzen fügen würden, die von jenen in den Wachtürmen eingesetzt worden waren.

„Im Verzicht liegt die wahre Freiheit!“ Diese Losung stand auf riesigen Schildern geschrieben, welche an unseren Stadttoren angebracht waren.

Und verzichtet haben wir. Weiss der Teufel. Verzichtet auf süsses, auf scharfes, auf salziges Essen. Nur fade und saure Lebensmittel waren erlaubt. Verzichtet auf Alkohol, Sirup, Säfte, eisgekühlte Getränke. Nur lauwarmes Wasser war erlaubt. Verzichtet auf das Lecken, das Lutschen, das Blasen, auf Doggy Style, Analverkehr, Reizwäsche, Striptease. Bloss dreimal rein und raus war erlaubt, vor dem Abspritzen, unter der Decke, bei gelöschtem Licht, nach erteilter amtlicher Bewilligung zum Kindermachen. Verzichtet auf alle Formen und Weisen der Musik – ausser jenen schrillen Signalen der Fanfarenbläser, die auf den Wachtürmen ihren Dienst verrichteten. Verzichtet auf alle Bücher, Zeitschriften, Comics.

War doch die – oben erwähnte – Stadtordnung, mit ihren tausend Seiten, unsere einzige erlaubte Lektüre.

Was die Schergen in den Wachtürmen den ganzen Tag so gemacht haben, wusste übrigens niemand. Uns einfachen Leuten war der Zutritt nämlich strengstens verwehrt.

Doch heute liegen sie darnieder, die verhassten Wachtürme. Das grosse Pendel schwingt jetzt endlich in die andere Richtung. Auf die Orgie des Verzichts folgt deshalb eine Orgie der Ausschweifungen, wie es hier noch nie eine gegeben hat.

Lärmen. Fressen. Saufen. Raufen. Huren. Alle Löcher penetrieren. Alle Spalten dehnen. Alle Öffnungen stopfen – und wenn gerade keine mehr frei ist, werden einfach zusätzliche geschnitten oder gebohrt. Randale Grande. Kavalkade der Obszönitäten. Karussell der Exzentrizitäten, der Perversionen, das sich in zunehmendem Tempo dreht. Schwindelerregend. Hurra! Wie im Rausch machen wir alles, alles, alles, was vorher verboten gewesen, kosten es aus, schmücken es aus, erfüllen uns die ausgefallensten, ja die abwegigsten Wünsche.

Nachdem wir auch noch der letzten Regung nachgegeben, die letzten unterdrückten Impulse ausgelebt haben, blind vor Lust, müssen wir nun, im Zustand der Ermattung, plötzlich feststellen, dass unsere Stadt nicht mehr steht. Unser Taumel hat nurmehr Ruinen übrig gelassen, zwischen denen Verletzte, Geschändete, Leichen herumliegen. Die Opfer unserer epischen Ausschweifungen, letztere durch Jahre schier unerträglicher Unterdrückung mächtig angestachelt. Im Laufe eines einzigen Tages nur haben wir sämtliche Verbote und Gebote, haben wir alle Gesetze und Grenzen überschritten. Wahnhaft. Oh weh!

Die Sonne geht unter. Ein sternenloser Nachthimmel hängt über dem Land. Wir scharen uns verschämt um unsere Lagerfeuer, weinen über unsere Untaten, verfluchen dieses Monster, das da Freiheit heisst.

Und planen den Wiederaufbau unserer Stadt. Mit Wachtürmen, die noch höher, noch robuster gebaut sein werden – als jene, die erst gerade eingestürzt sind. Wachtürmen, die von keinem Kugelblitz auch nur angekratzt werden können. Bemannt von noch gnadenloseren Schergen, die eine noch strengere, eine zehntausendseitige Stadtordnung durchsetzen sollen, denn nie mehr darf diese gefährliche Freiheit ausbrechen, die uns dazu verführt hat, unsere Stadt selbst zu zerstören, so viele unserer Nächsten selbst zu martern, zu schänden, zu töten.

An einem einzigen Tag.

Ja. Wir haben es leider auf die ganz harte Tour gelernt: Im Verzicht liegt sie tatsächlich. – Die wahre Freiheit! Also legen wir uns fortan selbst in die stärksten aller nur denkbaren Ketten. Freiwillig. Für immer und einen Tag. Ich selbst werde künftig übrigens als gnadenloser Scherge amten. Und in einem der neuen Wachtürme wirken. Im Dienste der Allgemeinheit, der All-Gemeinheit…

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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