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WARTEN UND ZÄHLEN

Panik in der Medienküche. Die Lebenserwartung von Menschen dürfte in unseren Breitengraden nun doch nicht bei deutlich über 80 Jahren verbleiben oder sogar noch weiter ansteigen. Sie würde vielmehr signifikant sinken. Statistiken, ausgewertet von Experten/-Innen, deuten darauf hin: Zigaretten, Alkohol, fettes Essen seien dafür verantwortlich, so die Weltmediziner/-Innen.

Arbeitsstress, Mobbing, Hektik seien doch sicher die eigentlichen Feinde des Alterns, würden bei derartigen Statistiken jedoch nie berücksichtigt, in dieser oder ähnlicher Art geben die frech kommentierenden Stimmen im Internet ihren – ganz unwissenschaftlichen und deshalb total unqualifizierten – Senf dazu.

Wir werden nun also weniger Lebenszeit haben.

Weniger Lebenszeit für Schnabeltassen, für Moltex-Windeln, Nasensonden und Infusionen. Weniger Zeit für die Schlafsäle der verlorenen Seelen, allesamt sediert durch Schmerz-, Schlaf-, Beruhigungsmittel, umsorgt von Nachtdienstlern, die wohl auch lieber im eigenen Bett liegen oder sogar die ganze Nacht lang Sex haben würden….

…als den letzten Atemzügen der Sterbenden zu lauschen. Im Zwielicht des Lebens – und die Minuten zu zählen, gegen den Schlaf ankämpfend, bis der Morgen anbricht.

Weniger Lebenszeit. Oh-Herrjehmine! Doch was ist Zeit?

In der Statistik erscheint sie als klar definierter, als quantitativer Wert. Pfeilgleich in eine Zukunft schiessend, die bekanntlich dazu verpflichtet ist, weitaus besser als die Vergangenheit zu sein. Bestehend aus Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren. Doch geben diese Einheiten hier unten, in der schmutzigen Realität der einzelnen Kreaturen, tatsächlich den Takt des Lebens vor?

Schokolade gegessen? Fünf Minuten gebraucht? Cunnilingus genossen? Blow job erhalten oder gegeben? Hat 20 Minuten gedauert. Sternengekrönten Fünfgänger eingenommen? Hat drei Stunden gedauert. Eine Flasche Whisky gesoffen? Hat vier Stunden gedauert. Ein Päckchen Fluppen geraucht? Hat sechs Stunden gedauert. Einen LSD-Trip gemacht? Hat acht Stunden gedauert. Eine Liebesnacht verbracht? Hat zehn Stunden gedauert. In den Ferien gewesen? Hat zwei Wochen gedauert. Hei, wie die Zeit vergeht.

Und alles so sinnlos…

Das Meiste auch noch ungesund. Zudem lässt es uns die Zeit vergessen, ihren wahren Wert gering schätzen.

In der gleichen Zeit hätte man richtig viel Sport treiben, eine Unmenge an Arbeit erledigen, die Steuererklärung hundertmal ausfüllen, die Krankenkasse tausendmal wechseln können.

Alles sinnvolle Dinge, wie man sagt.

Doch auch sie kosten Zeit, teilweise Nerven, strapazieren Geist und Körper. Leider. Auch sie verkürzen wahrscheinlich unsere Lebenszeit. Um jenen letzten Zacken, der doch so wahnsinnig wünschenswert ist. Auch sie tendieren eben dazu, uns den wahren Wert der Zeit – ihre pure Quantität nämlich – geringschätzen zu lassen.

Was tun?

Ich habe einen Vorschlag. Wir sollten unsere kostbare Zeit ausschliesslich mit einer Tätigkeit verbringen, die den Lauf der Sekunden, Minuten, Stunden so richtig spürbar macht, ihren Wert erlebbar – und den Sieg des Noch-Älter-Werdens, gemessen an verflossenen Generationen, wirklich zum Genuss geraten lässt.

Es gibt vor allem eine Tätigkeit, die dazu taugt: Das Warten. Und in unserem Fall würde ich diese gute Sache noch mit einer zweiten Aktivität kombinieren, mit dem Zählen nämlich.

Alle Menschen müssten möglichst alle Zeit, die sie bis zu ihrem Ableben zur Verfügung haben, dies von Kindesbeinen an, mit Warten verbringen. Dabei permanent die Sekunden zählen. Sowie die Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre. Alle Schulen sollten darauf ausgerichtet sein, die Menschen in diese Tätigkeit einzuweisen. Warten und Sekunden zählen; auch während man isst und trinkt und scheisst und fickt, was ja alles dem Erhalt des Lebens und der Spezies dient, aber bitteschön in bescheidenem Masse, zielführend, wie man heute so schön sagt, dazu braucht es kein Vergnügen.

Das Vergnügen soll vielmehr gänzlich aus der ganz bewussten Wahrnehmung der Zeitquantität hervorgehen, die wir erleben dürfen. Nur so können wir die Früchte einer richtig hohen Lebenserwartung effektiv ernten und geniessen. Nur das Warten sowie das unaufhörliche Zählen von Sekunden, als wesentliche Lebenstätigkeiten, führen der Menschheit den wahren Wert der Zeit vor Augen.

Lassen Sie uns also beginnen, Sie wissen ja, Sekunden zählt man am besten mit einem “Und” dazwischen: 1 – und – 2 – und – 3 – und – 4 – und – 5 – und – 6 und so weiter….

Sie werden feststellen, bereits nach fünf Stunden ist eine lange Weile Zeit vergangen. Und ja. Sie haben ihren Lauf so richtig gespürt. Eindringlich. Tief. Stellen Sie sich nur den Triumph vor, der ihnen zufallen wird, wenn Sie dereinst Ihr Lebensjahr Nummer 99 anzählen. Geil! Nicht?

Der grosse Jerry Garcia, selig, er ist leider nur 53 Jahre alt geworden, was den Wert seines Lebens halt schon ein wenig mindert, hat es immer so schön gesungen, in Worten, die ihm – der nicht minder grosse – Robert Hunter, der lebt immerhin noch, auf die Zunge gelegt hat: „Time is a stripper/Doin’ it just for you…“

So mote it be!!!

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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