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ALS DIE TAGE NOCH KEINE NAMEN TRUGEN

Als die Tage noch keine Namen trugen, waren die Menschen glücklicher. Als die Stunden noch nicht gemessen wurden, war die Zeit wertvoller.

Zudem wurde sie wahrscheinlich um einiges sinnvoller genutzt, wenn das Wort Sinn überhaupt eine Bedeutung aufweist, nebst der lautmalerischen.

Als der Sonne und die Mond noch ein Mann und eine Frau waren, konnte dem Universum da draussen gewiss mehr Vertrauen geschenkt werden.

Ich kann mich noch gut an dieses Gefühl von früher erinnern.

Jeden Abend, wenn die Dunkelheit über Land und See zog, dachten wir, dass jetzt für immer die Nacht herrschen würde, mit ihren Geräuschen, ihren Geheimnissen, ihren endlosen Liebesspielen, ihren Dämoninnen und Dämonen.

Jeden Morgen haben wir gestaunt, dass es wieder Licht wurde. Und es hat uns so gefreut, dass wir ekstatisch gesungen, getanzt, gevögelt haben. Aus lauter Dankbarkeit, die jener grossen Mutter galt, die alles Existierende geboren hatte. Und eines Tages vernichten würde, mit ihren Feueratmen, der genauso so heiss ist.

Wie ihre all-umfassende Liebe.

Hei, was haben wir mit den Bäumen und Tieren geplaudert. Und die lustigen, bemerkenswerten Geschichten, die sie uns erzählten, bereicherten das Leben auf ganz und gar fantastische Art und Weise.

Es war übrigens ein Leben, das sich noch nicht so scharf vom Tode abgrenzte – wie dies heutzutage bedauerlicherweise der Fall ist. Die Verstorbenen waren immer bei uns, sie setzten sich bei jedem Essen an den Familientisch.

Sie haben uns Lieder beigebracht, die wir Lebenden nie hätten komponieren können. Tiefe, geheimnisvolle Weisen, die wir liebten.

Obwohl wir sie nicht verstanden haben.

Ja, wir konnten damals gut damit leben – und lieben -, wenn wir etwas nicht verstanden.

Damals, als die Frauen die Kinder noch alleine gemacht haben. Die Männer hatten keinerlei Einfluss darauf. Auch die erotischen Spiele nicht, denen wir uns bei jeder Gelegenheit widmeten, die noch ganz frei waren.

Vom Gewicht der Zeugung.

Irgend etwas, das tief in den Frauen wohnte, beschloss, dass es nun Zeit wäre, ein Kind heranwachsen zu lassen. Die Männer konnten das nicht. Deshalb waren die Frauen heilig, kümmerten sich um die ernsthaften Geschäfte, lenkten die Geschicke des Clans. Während die Männer steifschwänzig krakeelen, mit Trommeln und Hörnern herumlärmen, Met saufen, auf Schwänen Flüsse hinauf und hinab reiten, fabulieren, Wildschweine jagen durften, wie es ihnen gemäss ist.

Und es hat Frieden geherrscht, im Wald, auf den Feldern, in den Höhlen.

Es war gemütlich in den Höhlen. Wir haben auf weichen Bärenfellen gelegen, fröhlich knisterte das Feucherchen, das Grossmama einst erfunden hatte. Wie sie auf die Idee gekommen war, hat sie niemandem erzählt, einige vermuteten, dass der Geist aus dem Sumpf sie in dieses Geheimnis eingeweiht hatte.

Andere nahmen an, dass ein Jüngling mit einem wunderschönen Gemächt aus den Wolken herniedergestiegen war und ihr die Feuersteine überreicht habe, ein Jüngling, der für diese Tat von seiner Chefin, die jenseits des Firmaments lebte und webte, furchtbar bestraft worden sei. Er sei von ihr nämlich ans Himmelsgewölbe genagelt worden, wo ihm eine Dämonin den Brustkasten aufgestemmt, sodann sein Herz in Stücke gerissen habe, worauf das Herz jeweils nachwuchs, die Wunde heilte, um dann von der Dämonin wieder geöffnet zu werden.

Ein Kreislauf, der sich bis in alle Ewigkeit wiederholen würde.

Wenn wir diese Geschichte wirklich geglaubt hätten, wären wir dem jungen Mann zwar dankbar gewesen, bemitleidet hätten wir ihn jedoch nicht, denn wir kannten das Mitleid nicht.

Genauso wenig wie den Glauben, denn wir haben einiges gewusst, anderes nicht. Damit waren wir zufrieden. So gibt es keinen Platz für den Glauben.

Auch weil wir alle immer fröhlich waren.

Sogar Schmerzen bereiteten uns Freude, denn sie stellten einfach weitere Gefühle dar, die es zu geniessen galt. Wie du es geniesst wenn eine liebliche Dame mit deinem Schwanz spielt, wie die liebliche Dame es geniessen mag, wenn du an ihrer Knospe saugst. Nur anders.

Und wir bemalten die Wände unserer Höhlen mit prächtigen erotischen Bildern, während es draussen dunkel wurde – dann wieder hell – dann wieder dunkel. So verging die Zeit, manchmal langsam, manchmal schnell.

So verging die Zeit. Und die Welt wurde dabei keineswegs besser. Nur älter.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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