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Mein Freund, der alte Mann

Ich habe einen Freund, der ist über hundert Jahre alt. Ich habe mich seiner angenommen, weil er vieles nicht mehr so gut kann und er froh ist, wenn man ihm im Alltag da und dort etwas unter die Arme greift.

Altersbedingt sieht er nicht mehr sehr viel und hört auch beinahe nichts mehr. Manchmal scheint es mir, als sei er gar nicht unglücklich darüber. So viel hat er schon gesehen in seinem langen Leben, so viel gehört. Da kann man wohl irgendwann gar nicht mehr, will bloss noch sehen, was einen betrifft, nicht mehr all das, was man ohnehin nie mehr wieder erreichen wird. Da ist der eigene Tellerrand dann die Grenze seines ganz eigenen Universums, und das ist gut so. Wenn man nur noch hört, was einem sein Inneres sagt und seine Engsten, dann ist man ganz bei sich angekommen, es braucht nicht mehr das unergreifbare ganze Drumherum.

Mein Freund lehrt mich, jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt. Er erinnert mich, dass ich mich über jeden Sonnenstrahl freuen soll, weil er zu wärmen vermag, und diese Wärme ist unbezahlbar. Er zeigt mir aber auch, dass man an einem nasskalten Morgen wie heute niemandem Fröhlichkeit vorzuspielen braucht, sondern es ganz okay ist, sich grummelnd nochmals in die Decke einzuwickeln und darauf zu warten, dass es besser wird. Er lehrt mich, dass man sich über einen vollen Teller Essen freuen soll, als sei es der letzte, dass man sich an jedem Bissen laben soll, als gäbe es keinen nächsten. Denn Essen ist Glück, ist Energie, ist Freude – eine der wenigen Freuden, die einem noch bleiben, wenn einem nicht mehr viel bleibt, insbesondere von der Zeit.

Wer denkt, der alte Mann sei bettlägerig, liegt falsch. Ganz im Gegenteil: Mein alter Freund hat eine weitere Leidenschaft, die ihm geblieben ist. Er liebt ausgedehnte Spaziergänge, auf denen er gemeinsam mit mir die Welt immer wieder aufs Neue entdeckt. Eine Welt, die mir so klein erscheint und ihm so gross. An ganz besonders guten Tagen, man glaubt es kaum, besteht er gar darauf, mit seinen alten, klapperigen Beinen eine gewisse Strecke zu rennen. Zu rennen! Dann ist ihm sein Frohmut ins Gesicht geschrieben, denn Rennen bedeutete schon immer sein grösstes Glück. Wenn man eine Passion, die einen durch die wilden Jugendjahre begleitet hat, auch im Greisenalter noch erleben darf, dann ist das wohl ein Glücksgefühl, das man nur ganz für sich alleine geniessen kann. Ich lerne die Dankbarkeit von ihm, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, wenn einen die Beine und Füsse tragen, jeden Tag, Tag für Tag, bis zum letzten.

Mein Freund ist stumm, hat irgendwann aufgehört, sich mitzuteilen. Jedenfalls so und in einer Lautstärke, dass es alle hören. Denn es müssen gar nicht immer alle alles hören, habe ich von ihm gelernt. Und schliesslich verfügt er noch immer über seine Ausdrucksmittel um zu sagen, was es zu sagen gilt, auch ohne zu reden. Die Angesprochenen müssen einfach ein klein wenig besser hinhören und hinfühlen, und das schadet nicht. Zeichen wieder lesen zu lernen, ohne dass sie uns vorgelesen werden, schärft unsere Sinne und damit das Feingefühl. Etwas, das im Alltag gerne auf der Strecke bleibt.

Es ist wenige Tage her, da war er müde, der alte Mann, mein Freund. Sehr, sehr müde – deutlich müder als sonst, wenn das Wetter garstig ist, der Tag ungerecht. So müde, dass er nicht mehr zu wollen schien. Wie ein Blitz durchzuckte es mich. War nun dieser Tag gekommen, der Tag, vor dem ich mich so sehr fürchte? Alles deutete darauf hin. Es war der letzte sonnige Herbsttag, die Tage, die er so sehr liebt. Die Sonne im Gesicht, auf dem ganzen Körper, Wärme, Geborgenheit. Sollte er sich gemeinsam mit diesem Herbsttag von mir verabschieden, mit dem letzten Sonnenstrahl gehen? Ich war traurig, obwohl mir mein Freund zu sagen schien, dass ich es nicht sein soll. Aber wer kann schon seine Traurigkeit steuern! Er schien keine Schmerzen zu haben, das beruhigte mich ein wenig. Denn schliesslich ist er in meiner Obhut, ich bin dafür verantwortlich, dass es ihm gut geht, dafür, dass seine Zeichen gelesen werden. Was, wenn es keine Zeichen mehr gibt?

Erleichterung machte sich breit: Zwei Tage später waren die Lebensgeister in seinen Körper zurückgekehrt. Gleichzeitig schämte ich mich ein wenig. Was ist bloss in mich gefahren, dass ich diesem alten Mann nicht auch seine schlechten Tage eingestehe? Dass er einfach in Ruhe gelassen werden möchte, mit sich selbst sein, einfach so? Auch etwas, das ich von meinem Freund gelernt habe: Du kannst nicht immer das Beste für alle wollen. Manchmal braucht es einfach Zeit, denn die Zeit kann heilen, besänftigen und Dinge gut sein lassen, ohne dass man sie noch besser machen kann. Und gleichzeitig hat es mir wieder einmal aufgezeigt, dass es auch nach dunklen Nächten einen Morgen gibt. Dass Kräfte zurückkommen, da hin, wo sie gänzlich verloren schienen.

Jetzt geht es ihm gut, meinem Freund. Er schläft und tut, was er manchmal, immer seltener tut, wenn er sehr tief schläft: Er spricht, gluckst, wimmert, kläfft und bellt leise vor sich hin. In diesen Momenten stelle ich mir vor, dass er ganz bestimmt von seinem langen, aktiven und erfüllten Hundeleben träumt. Den Tagen, an denen er anderen Hunden nachstellte, in unmoralischer Absicht, frech und zielstrebig. Dem Postboten auf seinem Fahrrad nachrannte, um ihn aus dem Garten zu jagen, mit den Kindern herumtollte, Bällen hinterhersprang und Stecken, um sich und seinem Besitzer Freude zu bereiten. Ich mag dich sehr, mein Freund. Danke, dass ich dich zu diesem Ende begleiten darf, und dass du mir zeigst, was es heisst, zu geniessen, zu leben und zu sein. Danke.

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Autor: Pete Stiefel

Pete konnte pfeifen, bevor er der gesprochenen Sprache mächtig war – und an seinem ersten Schultag bereits schreiben. Trotzdem ist er da noch einige Jahre hingegangen. Danach schrieb und fotografierte er fürs Forecast Magazin, für Zürichs erstes Partyfoto-Portal stiefel.li, fürs 20 Minuten, MUSIQ, Q-Times, Party News, WORD Magazine, war Chefredaktor vom Heftli, lancierte das Usgang.ch Onlinemagazin – und er textete für Kilchspergers und von Rohrs Late Night Show Black’N’Blond und Giaccobo/Müller. Er trägt (vermutlich) keine Schuld daran, dass es die meisten dieser Formate mittlerweile nicht mehr gibt.

Irgendwann dazwischen gründete er in einer freien Minute seine eigene Kommunikationsagentur reihe13, die unterdessen seit weit über 13 Jahren besteht. Er ist mittlerweile in seiner zweiten Lebenshälfte, Mitinhaber vom Interior Design Laden Harrison Interiors, schrieb unterdessen Pointen für Giacobbo / Müller, Black 'n' Blond (mit Roman Kilchsperger und Chris von Rohr und irgendwann auf dem Planeten Kult gelandet. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein grosser Schritt für Pete.

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Schweizer Illustrierte Zeitung 1919 (2) Schönheit

Land des Fressens, der Hoffnungslosigkeit und der Gewalt