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Jakob und das Haus am Ende des Tals

Es gab einmal einen Mann namens Jakob. Jakob war kein Nomade, kein Zigeuner, kein Fahrender, und dennoch wechselte er jedes Jahr seine Wohnung, sein ganzes Leben lang.

Nicht weil er es wollte, nicht weil es ihm ganz besonders viel Freude bereitete, immer und immer wieder seine Sachen zu packen, jedes Ding fein säuberlich mit Seidenpapier umwickelt, der Grösse nach in Schächtelchen und Schachteln verstaut, sorgfältig aufeinander gestapelt, damit ja nichts Schaden nimmt. Er hatte Routine im Umziehen, jeder Handgriff sitzte, und es dauerte jeweils trotzdem eine ganze Weile, ungefähr drei Tage, bis seine ganzen Habseligkeiten transportbereit waren. Die Gründe, die für einen regelmässigen Weiterzug sorgten, exakt jeden Herbst, zur selben Zeit, waren sehr unterschiedlich und jedesmal so einschneidend, dass an ein Bleiben nicht zu denken und das Weiterziehen unumgänglich war. Er hatte sie aufgeschrieben, in einem Büchlein in braunem Ledereinband, jeden einzelnen, Jahr für Jahr. Das Büchlein war stets das Letzte, das gemeinsam mit ihm die Wohnung verliess. War alles geräumt, pflegte er, sich auf den polierten Fussboden zu setzen und niederzuschreiben, weshalb ihm diese Bleibe nicht mehr genehm war. In der Hoffnung, die Mängel vor dem nächsten Einzug feststellen und sich damit erneutes Packen und Abreisen ersparen zu können. Vergeblich.

Zu Beginn waren die neuen vier Wände immer eine Ort der Glückseligkeit, mit all ihren Eigenheiten, ihren unterschiedlichen Grundrissen, mal mehr Zimmer, mal weniger, mal grössere Fenster, mal kleinere. Es war denn auch das Einrichten, welches Jakob gefiel. Jedes Stück auspacken und dort hinstellen, wo es hin gehört, wo es im besten Licht erscheint und bei Bedarf griffbereit in Reichweite liegt. Mit den Jahren kamen Dinge hinzu, für die es immer mal wieder ein neues Schäftlein benötigte, dann und wann einen Schrank. Er mochte es, diese Sachen zu haben, denn sie erinnerten ihn an früher. Was einem bleibt, wenn Perspektive fehlt, sind die Erinnerungen, pflegte er zu sagen, zu sich selbst, wenn er einmal mehr Seidenpapier um seine Erinnerungen wickelte und sie verstaute, um sie an an einem neuen Ort aufs Neue zu entwickeln.

Mal waren es einige Worte, kaum eine ganze Seite, die er in sein Büchlein niederschrieb, andere Male gleich mehrere Seiten, zwei, drei, vier. Eine Wohnung schien ihm nach einer Weile zu eng, eine andere zu geräumig. In einer fühlte er sich beobachtet, in einer anderen zu einsam. Eine war ihm zu abgelegen, eine andere zu sehr mittendrin. Dann hatte er eine, da war es rundherum zu laut: Von oben, von unten, von links und rechts, von überall schien man es darauf angelegt haben, ihn um seine Ruhe zu bringen – in einer anderen hörte er, wenn eine Nadel zu Boden fiel, so leise war es, was ihn beinahe um den Verstand brachte. In einer schien den ganzen Tag über die Sonne durch die Fenster, was zu unerträglich heissen Temperaturen führte, während sich eine weitere in einem engen Tal befand, in welches sich die Sonne in den Wintermonaten nicht verirrte. Um sich jeweils etwas aufzuwärmen, ging er im schweren Mantel und kniehohen Stiefeln heraus in die Natur und war nach einer Weile mit der ganzen Umgebung vertraut.

Auf einem seiner längeren Spaziergänge durch die karge Winterlandschaft entdeckte er eines Abends am Ende der Strasse, am Ende des Tals, ein Häuschen, ein stattliches Haus viel mehr, aus dessen Kamin Rauch emporstieg und durch dessen Stubenfenster ein Lichtschein auf den Schnee im Garten fiel. Was für ein glücklicher Ort dachte er sich, welch Glück für die Menschen, die darin ihr Zuhause gefunden haben, und er verspürte ein kleines Bisschen Neid auf dieses Wohl. Er beschloss, am nächsten Tag zurückzukommen und zu sehen, wie das Haus bei Tageslicht erscheint. Ob diese nächtliche Harmonie ein Trugschluss war, den die Helligkeit zu entlarven vermochte.

Weit gefehlt! Am hellichten Tage erschien ihm alles noch viel lieblicher! Die Liegenschaft war umgeben von einem grossen Garten, in welchem sich Obstbäume befanden, die im Frühling ganz bestimmt voller Blüten sein mussten, und im Sommer schwer behangen mit saftigem Obst. Da hörte er Stimmen und machte eilig einen Schritt hinter die Gartenmauer, schliesslich wollte er nicht beim verstohlenen Beobachten erwischt werden. Die Worte, das Lachen und fröhliche Quietschen kam von zwei Kindern und ihren Eltern, die dick eingemummt zum vergnüglichen Spiel im Schnee nach draussen gekommen waren – Jakob sah ihnen bei ihrem frohen Treiben zu. Fortan kam er jeden Tag vorbei, wie zufällig schlenderte er der Mauer entlang, langsam, damit er möglichst lange möglichst viel sehen konnte. Im Frühling von den Blüten, im Sommer von den Früchten. Längst war er der Familie aufgefallen, niemand kann sich unbemerkt jeden Tag zur selben Zeit an einem Haus vorbeischleichen, ohne dass ihn jemals jemand dabei sehen würde.

Im Sommer, es war ein ganz besonders heisser Tag, rief ihm der Vater zu, ob er denn nicht einmal dazustossen möge, auf ein kühlendes Glas Limonade, unter den Bäumen mit ihren grossen, Schatten spendenden Blättern. Der Mann zögerte erst, war etwas erschrocken, fühlte sich ertappt, entschloss sich dann aber, das Angebot anzunehmen. Freudig nahm er einen grossen Schluck Limonade von den Früchten dieses wundervollen Gartens, sie schmeckte süss, er blieb zum Abendessen und bis tief in die Nacht, bis er schliesslich heim ging, in die Wohnung, die ihm bisher gut gefiel, keine nennenswerten Mängel hatte, jedenfalls keine, die einen Auszug rechtfertigen würden. In dieser Nacht aber schlief er schlecht. Die Wände schienen ihn zu erdrücken, durch die weit geöffneten Fenster kam keine Luft, er drehte und wendete sich, ohne Ruhe zu finden, wachte am nächsten Morgen hundemüde auf und wusste, das seine Tage unter diesem Dach gezählt waren. Einmal mehr. Was er allerdings in sein Büchlein schreiben sollte, war ihm zu diesem Zeitpunkt noch mehr als schleierhaft.

Jakob besuchte die Familie fortan häufig und immer häufiger, half hier und dort etwas im Garten, im Haushalt, beim Einkauf, schaute auf die Kinder, wurde zum Freund. Das war ihm eine grosse Freude, und gleichzeitig auch nicht. Schliesslich war es in Tat und Wahrheit ja nicht die Familie, die es ihm angetan hatte, sondern das Haus. Was, wenn sie es herausfinden würden! Wäre er dann immer noch willkommen? Oder wären sie enttäuscht, und würden ihn zum Teufel jagen? Sein Unbehagen wuchs von Tag zu Tag. Und gleichzeitig das Bewusstsein, dass er dieses Haus haben wollte. Kein anderes, kein grösseres, kein teureres, kein ausgefalleneres, keines, nirgendwo.

Und es kam der Tag, der Tage, an dem es nicht mehr anders ging. Ihr Lieben, sagte er, es fällt mir schwer, aber ich kann es nicht länger für mich behalten: Ich wünsche mir nichts mehr, als hier, in diesem Haus zu wohnen, für den Rest meines Lebens, anders kann ich nicht mehr glücklich sein. Der Vater sah die Mutter an, die Mutter den Vater. Wir haben das doch schon lange gespürt, lieber Jakob, sagten sie. Weshalb sonst wären Sie tagtäglich hier! Schauen Sie, es gibt doch für alles eine Lösung. Wie wäre es denn, wenn Sie in unser Gartenhaus ziehen würden? Gewiss, es ist nicht sehr geräumig, doch liesse sich bestimmt etwas daraus machen. Und Sie wären dann immer hier, in diesem Garten, und die Tür zum Haus steht ebenfalls immer offen. Wer weiss, dachte er, das wäre vielleicht eine Lösung. Nicht für immer, aber möglicherweise zieht die liebe Familie ja irgendwann weiter, dann wäre ich schon da und müsste meine Sachen nur noch quer durch den Garten, die Treppe hinauf und über die Türschwelle tragen.

Er ging zurück zu seiner Wohnung, packte seine Habseligkeiten, benötigte in seiner Vorfreude lediglich zwei Tage und zog darauf ins Gartenhaus ein. Es war Herbst, erneut, das Laub der grossen Bäume golden, Jakob zufrieden und froh. So verbrachte er sein Jahresende ganz nach seinem Geschmack: Nahe seines geliebten Häusleins, an dessen Lieblichkeit er sich jeden Tag aufs Neue erfreuen durfte. Wann immer es ihm beliebte, konnte er es betreten, als Hausfreund war er der Familie inzwischen längst willkommen, selbst wenn sie selber nicht anwesend waren. Er goss Blumen und schaute auch sonst eifrig zum Besten – geradezu, als wäre es bereits sein ganz eigen Heim.

Dann, es kam ein Tag, der Frühling hielt schon beinahe Einzug, Schneeglöcklein drückten durch die letzten Schneefetzen im Vorgarten, da klopfte es an der Gartenhaustür. Der Familienvater wars, mit ernsterer Miene als gewohnt: Jakob, wir haben beschlossen, auszuziehen, uns ein grösseres Haus zu suchen. Es ist ein weiteres Kind unterwegs, da wird es mit dem Platz einfach… Jakob hörte gar nicht mehr zu. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume: Ein Traum sollte wahr werden! Endlich, nach vielen Jahren am Ende seines Weges, am Ende der Strasse, am Ende dieses Tales. Die Vorfreude kannte keine Grenzen.

Im Monat März sollte es geschehen, der Termin war angesetzt, die Familie begann nun ihrerseits mit Packen. Jakob hingegen beschloss, den verbleibenden Monat damit zu verbringen, Ausschau nach neuen Möbeln zu halten. Die alten schienen ihm zu schäbig, vieles zu abgegriffen, das neue Zuhause sollte perfekt werden. Gar liebäugelte er damit, sich ein Tier anzuschaffen, so schön und gross waren doch Haus und Garten – zu gross für einen kleinen Mann so ganz alleine. Aber das hatte Zeit, erst mussten andere Dinge her. Jakob beschloss, sich nicht mit dem Erstbesten zufrieden zu geben, und er begab sich auf eine mehrtägige Reise, auf welcher er Ausschau nach dem Passenden halten wollte. Er packte einige Dinge in einen kleinen Koffer zusammen, seit vielen Jahren zum ersten Mal nicht für einen Umzug, sondern für einen vergnüglichen Ausflug! So verabschiedete er sich von der geschäftigen Familie und zog von dannen.

Die paar Tage, sie führten ihn gar ins nahe Ausland, vergingen wie im Fluge. Viel Schönes war ihm begegnet unterwegs, Käufliches und Unkäufliches. Hätte ihn nicht die unbändige Vorfreude auf sein neues Zuhause davon abgehalten, wäre Jakob wohl noch viel weiter gereist. Mit vielen neuen Erinnerungen im Koffer, begab er sich dann aber schliesslich auf den Heimweg, der ihn durch das Tal führte, welches ihm früher so eng schien, entlang der ehemals so langen Strasse. Er schritt eiligen Schrittes voran, rannte beinahe, die letzten paar Meter um die letzte Kurve dann tatsächlich. Und was er dann erblickte, liess ihm das Herz für einen Moment stillstehen, das Blut in den Adern gefrieren, und er sackte in sich zusammen, unfähig, seine Gliedmassen zu kontrollieren. Wo noch vor einer Woche sein Haus stand, war jetzt eine Brandruine! Das wundervollste Haus weit und breit bis auf die Grundmauern niedergebrannt! Jakob brach in Tränen aus, mit schier versagenden Beinen schleppte er sich bis an die Gartenmauer, krallte sich mit klammen Fingern daran fest und starrte ungläubig darauf, was sich ihm hier offenbarte. Seine Zukunft, sein Leben… ein Trümmerhaufen. Was war bloss geschehen? Wie ein Blitz durchzuckte es ihn: Die Familie! Waren sie wohlauf? Er tastete sich voran, weiter bis zum Gartentor, es war verschlossen. Daran hängend entdeckte er einen Zettel, darauf mit einigen wenigen, grossen Buchstaben:

«ES TUT UNS LEID.»

Jakob begriff nichts, wusste aber, dass es nie mehr sein wird wie zuvor.

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Autor: Pete Stiefel

Pete konnte pfeifen, bevor er der gesprochenen Sprache mächtig war – und an seinem ersten Schultag bereits schreiben. Trotzdem ist er da noch einige Jahre hingegangen. Danach schrieb und fotografierte er fürs Forecast Magazin, für Zürichs erstes Partyfoto-Portal stiefel.li, fürs 20 Minuten, MUSIQ, Q-Times, Party News, WORD Magazine, war Chefredaktor vom Heftli, lancierte das Usgang.ch Onlinemagazin – und er textete für Kilchspergers und von Rohrs Late Night Show Black’N’Blond und Giaccobo/Müller. Er trägt (vermutlich) keine Schuld daran, dass es die meisten dieser Formate mittlerweile nicht mehr gibt.

Irgendwann dazwischen gründete er in einer freien Minute seine eigene Kommunikationsagentur reihe13, die unterdessen seit weit über 13 Jahren besteht. Er ist mittlerweile in seiner zweiten Lebenshälfte, Mitinhaber vom Interior Design Laden Harrison Interiors, schrieb unterdessen Pointen für Giacobbo / Müller, Black 'n' Blond (mit Roman Kilchsperger und Chris von Rohr und irgendwann auf dem Planeten Kult gelandet. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein grosser Schritt für Pete.

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