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IM ZOO DER GEFÜHLE: ORGASMUSHAUS

Dunkel war es über dem Gelände, dem Zoo der Gefühle des Ministeriums für Eruptive Immanenz. Eine heillose Gewitternacht. Erstickte Schreie und gehauchte Seufzer im Haus der Verzweiflung, Tobsuchtsanfälle im Haus des Zorns, leises Stöhnen nur im grössten, im zentralen Gebäude des Zoos, im Orgasmushaus mit seiner schönen alten Metallkuppel. Hier werden sie alle artgerecht gehalten; die Höhepunkte, gross und klein, werden gehegt, gepflegt, gefüttert und jeden Freitag gebadet, danach gebürstet. Wenn einer von ihnen in die Welt der Menschen hinuntergeschickt wird, geschieht dies ausschliesslich per Dekret des federführenden Ministeriums. Weil ein Lämpchen aufleuchtet, das die Notwendigkeit eines Orgasmus-Einsatzes anzeigt, irgendwo dort unten. Dieses Lämpchen ist ein ausserordentlich sensibles Instrument, je heller es blinkt, desto grösser der Bedarf, desto grösser demnach der ausgelieferte Höhepunkt. Die Sammlung des Orgasmushauses ist umfangreich; kosmische Klasse. Von ganz kleinen Schauern, über kapitale Seelenfeger, bis hin zu apokalyptischen Biographie-Detonatoren sind hier alle bekannten Gattungen vertreten. Gezüchtet werden sie in Arebor, von Gott und seinen Gehilfinnen. Der Zoo ist stolz auf seine einmalige Orgasmussammlung. Und Pola teilt diesen Stolz. Sie ist Kuratorin des Hauses und übernimmt zwischendurch auch mal gerne die Nachtwache, was ansonsten von einer Wärtereinheit besorgt wird, die ganz formidabel ausgebildet ist. Pola sitzt an ihrem Pult, liest im Quartalsbuch des Interuniversellen Instituts für Orgasmusforschung (ISO), raucht eine Original-Krumme, lauscht dem Donner, dem Trommeln des Regens auf der Metallkuppel und dem leisen Stöhnen ihrer «Kinder», wie sie die Orgasmen bei sich selber zu nennen pflegt. Ja, Pola liebt die Sammlung. Jedes einzelne Stück. Die kleinen Orgasmen sind in gut geheizten Massenställen unterbracht, wo sie sich nächtens eng aneinander kuscheln, die mittelgrossen teilen sich bequeme Zweierställe, die mächtigsten jedoch, die ganz grossen Rüttler und Schüttler, haben Einzelställe, die speziell gesichert sind. Denn merke, Orgasmen sind an sich ungefährlich, doch sobald sie auf Menschen treffen, werden sie hochgradig akut. Und Bumm! Orgasmen schlafen überdies nie. In diesen Dingen kennt sich Pola, das Universum nennt sie Dr. Wiebald, bestens aus. Ihre bahnbrechenden Arbeiten über orgasmische Intensitätsstufen haben ihr viele interuniverselle Preise eingebracht. Die nach oben offene Skala der Höhepunktsintensität ist nach ihr benannt: Das berühmte Wiebald-O-Meter. Sie kennt ihr Metier aus dem Effeff, spürt jede Regung jedes noch so winzigen ihrer Schützlinge, die Boulevardpresse nennt sie «Die Orgasmusflüstererin». Ja, wenn es um Orgasmen geht, macht der Frau Doktor so leicht niemand was vor. Eine besonders laute Donnerkanonade dröhnt nun über dem Orgasmushaus. Pola legt ihr Quartalsbuch aufs Pult, zieht ihre Lesebrille aus, beginnt diese zu putzen. Sie schaut versonnen. Sie denkt: «Schon wunderbar, dass die Ställe nun neue elektronische Schliesssysteme haben, alle mit einem Code bedienbar, übers Handy. Das war früher immer ein mühsames Gefummel mit dem gigantischen Schlüsselbund.» Sie setzt die Brille wieder auf, nimmt das Buch zur Hand, fährt mit der Lektüre fort. Draussen, am Himmel über der Metallkuppel des Orgasmushauses, macht sich gerade ein Kugelblitz, von einer Intensität, die noch nie zuvor beobachtet wurde, dazu bereit, in das Gebäude einzuschlagen. Es zischt. Plötzlich sitzt Dr. Pola Wiebald in der Finsternis, alle Lichter weg. Und alle Plexiglastüren zu den Orgasmusställen, gross und klein, haben sich plötzlich wie von Geisterhand geöffnet, wohl eine Schwäche des sündhaft teuren neuen elektronischen Schliesssystems. Die Orgasmen strömen in die Vorhalle, sie riechen, riechen Menschenfleisch, sie riechen Pola. Schon sind sie ins Büro eingedrungen, rollen in Wellen über die gute Frau Doktor hinweg – und durch die Frau Doktor hindurch –, die kleinen, die mittleren, die super massiven Orgasmen. Erbarmungslos. Einer nach dem anderen. So geht es die ganze Nacht. Bis etwas, ein ganz und gar wesentliches, ein lebenserhaltendes Element in unserer Pola zerbricht. Die Morgenschicht, die das Debakel am nächsten Tag entdeckt, den leblosen Körper der Frau Doktor findet, staunt nicht schlecht: Noch nie haben sie eine Leiche mit einem derart verzückten Gesichtsausdruck gesehen. Und die Wärter, sie gehören zu den am besten ausgebildeten Wärtern überhaupt, die im Zoo der Gefühle arbeiten, sehen in ihrem Berufsalltag wirklich viele Leichen! Warum dies so ist, erklären wir ein andermal.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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