Von Shamiran Stefanos
Ein Völkermord jährt sich und keiner will sich daran erinnern
Ich bin ein ungewolltes Saatgut aus geschändetem Boden.
Der Boden wurde früher anders genannt und gehörte anderen Menschen als heute.
Was heisst schon gehören – die früheren Besitzer waren keine Besitzer, weil sie künstliche Grenzen zogen. Sie pflegten, bewirtschafteten, bewohnten und liebten ihren Boden. Und das auf ihre Art seit Jahrtausenden. Sie töteten nicht für den Boden, sondern lebten für ihn.
Die heutigen Besitzer kamen, um zu rauben, zu verwüsten, und zu schänden. Die früheren wurden grausam vertrieben und ihre Felder wurden verbrannt, damit keine ihrer Saat noch überleben sollte. Damit niemand weiss, wer davor auf diesem Boden gelebt hat. Damit die alten Besitzer nie existiert haben.
Die neuen Eigentümer befürchteten, dass ihre Taten nach aussen hin wenig ehrenhaft erscheinen könnten. Also änderten sie ihre Geschichte und hielten in der Retrospektive stets fest, wie glorreich gefährliche Feinde bekämpft wurden.
Auch heute ist das Teil ihrer regressiven Politik. Krank vor Nationalstolz und vor religiösem Fanatismus schreien sie stumpfsinnige Parolen hinaus. Man könnte fast meinen, dass die Lautstärke ihr Gewissen übertönen sollte. Das Gewissen, das daran zweifelt, ob Kinder, Frauen, und Greise als gefährlich gelten können.
Der grosse Völkermord auf heute türkischem Boden begann 1915 und richtete sich gezielt gegen Armenier, Assyrer-Aramäer und Pontus-Griechen. Wann er vorbei sein wird, bleibt ungewiss. Heute noch hält er an und hat im Laufe der Jahre auch weitere indigene Völker mit ins Elend gerissen. Alles, was sich nicht türkisch und nicht sunnitisch nennt, wurde und wird beraubt, verfälscht oder eliminiert.
Ein winziger Teil des alten Saatguts konnte aber vor 101 Jahren überleben und gedeihen. Und nun bin ich hier. Auf anderem Boden in einer anderen Zeit. Trotzdem kann ich nicht vergessen, weil meine Eltern nicht vergessen können, wie sie auch Jahrzehnte nach der grossen Zerstörung vertrieben wurden. Wie mein Grossvater im Militär verprügelt wurde, weil sein Vorname seine Herkunft verriet und er sich weigerte, das islamische Glaubensbekenntnis auszusprechen. Wie mein anderer Grossvater am Boden von einem angebundenen, rennenden Pferd des türkischen Militärs herumgeschleift wurde, weil er sich einer Exekution zur Wehr setzte, die ihn dafür strafen sollte, sich nicht zu einer gefälschten Ethnie und einem neuen Glauben bekennen zu wollen. Wie unsere und viele andere Sprachen verboten wurden. Wie Mädchen aus der Nachbarschaft meiner Eltern für immer verschleppt wurden. Ich kann nicht vergessen, weil das gerade mal ein Bruchteil der Geschehnisse ist, der immer noch geleugnet wird.»
Ob ein junger Staat seine Geister der Vergangenheit jemals loswerden kann, solange er einen Schleier der hegemonischen Träume über seine Ängste vor der quälenden Wahrheit zieht?
Ich bin ein ungewolltes Saatgut aus „türkischem“ Boden.
Ich weiss nicht, ob der Boden immer Türkisch bleiben wird.
Aber ich weiss, dass ich dafür sorgen werde, dass das ungewollte Saatgut weiter gedeiht.
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Weitere Informationen: Völkermord an den Syrischen Christen
Beitragsbild: http://deckert-distribution.com/film-catalogue/authors-documentaries/grandmas-tattoos/
Shamiran Stefanos