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MORGEN WERDE ICH WIEDER TRAURIG SEIN

Es ist immer empfehlenswert, ein Rib Eye Steak, eine Bibel, eine Signalpfeife und eine Russ-Meyer-Gesamtausgabe, alle Filme auf einem Stick, dabei zu haben, in den Taschen des grauen Überziehers – oder in jenen der Lederjacke meinetwegen. Für schlechte Tage. Bargeldlose, brotlose, blowjoblose Tage.

Heute ist anscheinend so ein Tag. Schon am Morgen haben sich die Innenwelt und die Aussenwelt auf unerquicklich bizarre Weise miteinander vermischt. Während ich meine ersten fünf Kaffees getrunken, ab dem dritten mit Schuss, mein erstes Päckchen Krebsnägel, afghanische, geraucht habe, dazu diese unglaubliche posthume Jeff Healy-CD, dieses geile Heal-My-Soul-Teil, Gott, hatte der einen Gitarrensound, aus der Anlage dröhnen liess, gleichzeitig auf dem Laptop – und, yesma’am, ich hatte ihn auf dem Schoss – die neusten Neuigkeiten aus dem Pornofachbereich anschaute, ja, während ich all dies tat, sind plötzlich Passantinnen, Passanten durch meine Stube gelaufen. Einfach so. In ihren schmutzigen Regenmänteln. Und laut gequatscht haben sie. 24 sind mir mit Fahrrädern über den Teppich gefahren, elf sogar mit Automobilen. Zwei habe ich auf der Stelle erschossen, wegen allzu offensichtlicher Verblödung und Verrohung; tun Sie doch nicht so empfindlich, Sie hätten auch immer eine Schusswaffe griffbereit, wenn sie mein Leben führen müssten. Im Moment favorisiere ich das Model 340PD von der sympathischen Traditionsmanufaktur Smith & Wessen, eine urgemütliche .357 Magnum. Aber das kann morgen schon anders sein.

Wenn es noch ein Morgen geben sollte.

Die Passantinnen, Passanten in meiner Stube haben mich nach kurzer Zeit derart genervt, dass ich rausgegangen bin. Auf die Strasse.

Und was haben die Leute dort gemacht? Sex! In allen Stellungen, von missionary bis doggy. Französisch. Griechisch. Spanisch. Special Interest. You name it! Und einige haben sich sogar die Zehennägel geschnitten, auf dem Gehsteig hockend, haben in Gullis uriniert, defäkiert, dazu Arien gepfiffen, in den schrägsten Tönen, zum Beispiel «Orest! Orest!» aus Richard Strauss’ Elektra…

Ich begriff schnell, was Sache war. Das Private und das Öffentliche haben die Plätze getauscht. Ekelhaft!

Also habe ich die Strassenbahn bestiegen. Der Waggon war fast leer. Ich habe mich gemütlich hingesetzt, denn ich wollte so weit wie möglich fahren, so lange wie möglich. Ich habe Jaques Lacans Seminar livres VI aus einer bestimmten Tasche meines grauen Überziehers – oder jener meiner Lederjacke meinetwegen – gezogen, das da den schönen Titel trägt «Le désir et son interprétation». Hier entwickelt Lacan gewissermassen seine erste Logik der Fantasie, umkreist und umreisst er seinen Begriff der Fundamentalen Fantasie. Jenes minimalen aber unwiderstehlichen ursprünglichen Wunschgebildes, das sich im Spannungsfeld zwischen diesem verflixten Paar namens Entfremdung und Trennung permanent auflädt, doch zu einer Entladung kommt es nie. Ein toller Text. Zwischendurch musste ich während des Lesens – für Augenblicke nur – an Thanits Arschbacken denken, wie sie eifrig wackeln, unmittelbar vor meiner Nasenspitze. Es ist ein freudiges Wackeln, doch nicht gänzlich selbstzweckhaft und sorglos, seine Erzeugerin hat durchaus auch den Betrachter im Sinn. Nett von ihr.

Dann wieder versank ich. In den Sprachlabyrinthen jenes Jacques aus Paris. Nun muss ich ins Präsens wechseln. Haltestelle folgt auf Haltestelle. Leute husten. Leute fluchen. Leute riechen seltsam, rascheln mit Wachspapier.

Die schiere Länge der Fahrt lullt mich ein. Und dann, plötzlich, beinahe hätte ich sie nicht mehr erwartet, Endstation. Ich steige aus. Ganz in Gedanken versunken. Lacan. Arschbacken. Erinnerungsfetzen an einen Kaffee, den ich 1997 in Biarritz getrunken habe, zusammen mit einer eleganten Transe namens Bara. Plötzlich stehen die gelben Gummihandschuhe meiner Grosstante Zia Beretta nur allzu deutlich vor meinem geistigen Auge. Endbahnhof meiner Gedankenfahrt. Ich zünde mir eine Fluppe, eine afghanische, an und stelle meine Augen auf scharf. Da wird mir bewusst. Ich kenne diese Gegend nicht.

Fremde Strassen. Fremde Häuser. War noch nie hier. Wie lange bin ich gefahren?

Ich ziehe mein FunFone von Tomato aus der Innentasche meines grauen Überziehers – oder jener meiner Lederjacke meinetwegen. Keine Verbindung. Nach nirgendwo. Keine Verortung auf der Karte. Der App-Kompass dreht sich wie blöd im Kreis. Nun komme ich an eine Hauptrasse, eine Prachts-Allee. Da wird so eine Art Karneval abgehalten. Und ich habe als einziger kein Kostüm. Nackte Damen in silbernen Stiefeln mit Plastik-E.T.-Masken reiten auf mächtigen Molosserhunden aus laminierter Pappe, die jeweils von zwei Herren animiert werden, von denen man nur die Schuhe sieht. Es sind schöne, gepflegte Schuhe.

Das spricht mich plötzlich einer an. Fragt mich, ob ich Rauschgift kaufen wolle. Ich sage ja. Dann sagt er, dass er von der Polizei sei. Und ich jetzt mitkommen müsse. Ich gebe Fersengeld. Renne durch ein Universum aus schmalen verwinkelten Gassen, die ich nie zuvor betreten habe. Renne unter dem Marmeladenhimmel. Ich dringe durch eine unverschlossene Türe in die dreckigste Toilette ein, die ich je gesehen habe, der Boden, die Wände, komplett verschissen, wo ich mich einige Stunden verstecke – und der Gestank, und dieser unerträgliche Gestank…

Als ich mich endlich raus getraue, ist es bereits dunkel. Ich schleiche an den Hauswänden entlang. Nun regnet es. Zum Glück. Regen bringt mein paranoia level immer so wohltuend runter. Da sehe ich ein einladendes Häuschen vor mir. Freundliche Fensterlichter im Dunkel der Nacht, wie Blowjob-Augen. Ich ziehe an der Glocke.

Ein Mann mit einer grossen Nase öffnet. Ich töte ihn schnell und geräuschlos. Dringe in das Häuschen ein. Schliesse die Tür. Lasse den taufrischen Leichnam zu Boden gleiten. Schaue mich um. Betrete das Wohnzimmer. Da kniet eine hübsche Dame auf einem Orientteppich, auf interessante Art und Weise gefesselt, sie trägt lediglich den Félicie Strappy Cut Out Teddy von Frederick’s, wusste gar nicht, dass es den auch in Mintgrün gibt, und High Heel Boots von Viking.

Mit säuerlichem Blick mustert sie mich. Dann sagt sie: «Du hast ihn getötet. Jetzt musst halt Du mit mir machen, was Du willst.» Ich greife in die geräumigste Seitentasche meines grauen Überziehers – oder jene meiner Lederjacke, meinetwegen – und schaue, ob ich meine Ausrüstung dabei habe. Positiv. Auf einen schlechten Tag folgt eine Nacht des inspirierten Frohsinns. Immerhin. Morgen werde ich wieder traurig sein.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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