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Kristen

Wäre es anders gewesen, wenn du es gewusst hättest? Kristen? Kristen sagt: «Ich war so alleine, so alleine all die Jahre. Ich hatte solche Angst, dass ich es gar nicht sagen kann.» Die ganze Zeit über hatte sie nicht viel gesagt. Aber sie hatte nichts falsch gemacht, niemand kann sich vorstellen, dass sie überhaupt etwas falschmachen können würde.

Wie der Wind

Kristen sagt und ihre Stimme wird so tief, wie der erste Wind über einem Blumenfeld: «Es gibt nicht viele Arten, meine Tränen zu zählen. Aber ich kann nicht verstehen, warum es so ist, wie ich es fühle.»

Sie bewegt sich nicht, ihre Hände liegen ruhig in ihrem Schoss, so als seien sie ihr fremd, ihr fremd geworden. Doch ihre Finger sind von einer feingliederigen, zerbrechlichen Schönheit. Ihre Hände lassen keinen Zweifel, dass sie jedem Requiem gewachsen sind, sie unerträglichen Schmerz und unerträgliche Schönheit kennen. Kristen sagt: «Da sind Tage, ohne Regen, Tage ohne Sonne. Tage, schwarz, wie die Nacht.»

Noch eine Welt

Während ich Kristen zuhöre, denke ich, da draussen muss doch noch eine Welt sein, eine schlechte, eine unperfekte Welt, eine Welt voller Käfige und Gefängnisse, voller Menschen, die andere Menschen einsperren. Menschen, die meinen, sie wissen, was sie mit anderen Menschen machen können, oder machen müssen. Aber seltsamerweise verschwindet diese Welt hinter ihr. Kristen hinterlässt einen verwüsteten, obszön nackten und zutiefst sinnlosen Planeten. Wenn ein Wesen wie sie keinen Sinn macht, was könnte es dann?

Immer habe ich diesen Raum gemocht, war stolz auf meine Praxis gewesen. Darum, weil sie dir eine Wahl lässt. Du kannst dich frei bewegen. Hier ist alles, was man sagt in Ordnung. Alles, was man sagt, sicher. Geglaubt habe ich an diesen Raum, als wäre er eine Kathedrale. Als wäre er ein besserer Ort. Nicht, dass ich auf Wahrheit aus wäre, nicht, dass ich eine Art «Glauben» verkünden würde. Geglaubt hatte ich jedoch immer, dass hier eine Freiheit möglich gewesen wäre.

Einfach verschwinden

Nun. Nun werde ich aufgeben müssen. Die Müllabfuhr wird die Sofas und die Sessel abtransportieren. Der Wildschweinkopf an der Wand, ironisch gemeint, wird irgendein Sammler abholen kommen. Meine Praxis wird einfach verschwinden. Das ist nicht rational. Am Ende meiner Welt bin ich ratlos, und ich bin alleine. Und am Ende des Weges ist nichts. Es ist nicht so, dass Freud, das nicht genau vorhergesehen hätte. Tapfer kämpfte er mit einer Zigarre im Mundwinkel dagegen. Am Ende sind wir Tiere.

Am Ende ist nicht einmal mehr Kristen da. Sie darf nicht da sein.

Kristen sagt: «Ich rutsche, ich falle, ich sterbe. Das tue ich immer wieder. Und niemand hat eine Ahnung, wie das ist. Niemand kann das verstehen. Ich war so alleine, so viele Jahre. Da waren Tage, in denen es nicht einmal Sonne, keinen Regen, weder Wärme, noch Kälte gab. Tage, die einfach nichts waren.»

Schmerz und Freude

Manchmal sass sie im Sessel, manchmal lag sie auf dem Sofa. Manchmal ging sie auf und ab. Auf und ab. Mit 32 wurde ihr schwarzes Haar langsam ein bisschen weiss, ihre Beine waren wackelig, ihre Augen leuchteten nur, wenn sie sich selbst verführte. In meinem Therapieraum, der Schmerz und Freude kannte, dessen Wände genauso Zeugnis ablegten von der Angst zu sterben, wie von der Unmöglichkeit zu leben, in diesem Raum herrschte plötzlich ein Geruch der Fäule, das Vakuum der Fühllosigkeit.

Wäre es anders gewesen? Kristen?

Kristen sagt: «Das habe ich nie verstanden. Ich habe nichts empfunden. Ich schlafe mit Frauen, mit Männern auch, aber es ist keine grosse Sache. Nie habe ich irgendetwas gespürt, wenn ich Sex mit jemandem hatte. Es gibt diese Nächte, aber es sind nur Nächte. Vor den Nächten brauchst du keine Angst zu haben.»

«Wann hat es sich geändert, Kristen?»

Rollende Welle

Wohl nie hat es ein perfekteres Menschenkind gegeben. Nie ein schöneres. Wohl nie ein Baby, ein Kleinkind, das mehr bewundert geworden wäre. Ihr Lächeln ist eine langsam rollende Welle, ihre Präsenz ist in jedem Raum ein Geschenk, ihre Atemzüge erscheinen bedeutungsvoll, obwohl Kristen auch nur schlicht atmen muss. Ihre Augen sind faul, ihr Blick gerade so unstet, dass er wie ein Versprechen erscheint, aber sie hat das Licht. Ihre Lippen sind vielleicht etwas zu dünn, aber sie sind immer in Bewegung. Ihre Intelligenz ist nicht zu unterschätzen. Reinheit, Perfektion.

Kristen sagt: «Manchmal dachte ich, es helfe, ich könnte in die Dinge hineinsehen. Ich hatte viel Spielzeug. Meine Eltern fuhren mit uns an den See. Meine Mutter erzählte mir Gute-Nacht-Geschichten und mein Vater wollte mir einen kleinen Hund schenken. Ich habe mein Spielzeug zerschlagen, die Puppen aufgeschnitten, mit dem Welpen dürfte ich das kaum machen und meine Eltern aufschlitzen konnte ich ja auch nicht. Aber genervt haben sie schon.»

Emsiges Treiben

In wenigen Stunden wird zwischen diesen Wänden emsiges Treiben herrschen. Die Zügelleute werden sich um den Wildschweinkopf kümmern, ironisch gemeint, Müllmänner werden die Möbel holen, Anstreicher die Wände übermalen. Sie werden alle Geschichten, alle Sprache in Eierschalenweiss tünchen können, nur bei einer Geschichte wird es nichts nützen. Es endet hier. Es ist schwer zu sagen, ob es ihr Fehler war. Auf den Stühlen, in den Sesseln, sind sie gesessen, die Verzweifelten, die Ängstlichen, die Pathologischen und Pathetischen. Beinahe fünfzehn Jahre haben meine Antworten gereicht. Der eigene Ansatz gar.

Kristen sagt: «Ich bin so alleine, all diese Jahre. Ich habe solche Angst, dass ich es nicht sagen kann. Da sind Tage, da gibt es keine Sonne, es gibt keinen Regen, es gibt gar nichts.»

Eine Maske

Ich dachte, es sei so leicht. Kristen. Mit dir. Das habe ich wirklich geglaubt. Und ich habe es versucht, dir zu sagen. Wirklich, ich meinte, da seine eine Maske, die schon abfallen würde, eine Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen. Das war falsch Kristen. Du hast den Scheiss einfach irgendwo gelesen, vielleicht war es irgendein Song und es gefiel dir einfach, es einmal damit zu versuchen. Es gefiel dir, von Alpträumen zu erzählen, die andere hatten. Und du wusstest. Du wusstest von Anfang an: Du verführst, kannst verführen, wie nur du es kannst. Dir war klar, mit einem tiefen Atem würde sich deine Brust perfekt heben, ohne dass es allzu sexy wäre, ein verschleierter Blick und deine Melancholie wäre die Schönheit einer zerrissenen Welt. Ich dachte es sei leicht. Kristen. Und du hattest recht. Es fällt dir zu leicht. Schliesslich gibt es doch einige Narzissten auf der Welt.

Das Telefon klingelt, aber es wird keine Termine mehr geben. Ich erinnere mich an deine Hände, die so hilflos erscheinen. Erinnere mich auch an deinen Gang, den unsicheren, aber da warst du halt wohl einfach ein bisschen high. Da kam wohl auch der «ich-bin-ein-verwundetes-Lamm-Blick» noch besser. Ok, ich studierte acht Jahre, aber eigentlich länger, aber es gefällt mir zu sagen, es seien acht. Meine Aufsätze, die nicht ironisch gemeinten, sind in mehreren Sprachen veröffentlicht. Aber es endet hier. Niemand wird mehr das Klingeln dieses Telefons hören. Ich werde meine Fresse halten.

Kein Geld mehr

Kristen sagt: «Was kann ich machen, wenn ich nicht hineinsehen kann. Da kann ich auch nichts machen, aber dann hatte ich kein Geld mehr, niemand mochte mich mehr und ich mochte es auch nicht mehr. Das war schwierig, da war meine Arbeit bei Jil Sander, aber warum soll immer ich diese Entwürfe machen. Das ist doch Quatsch. Es war so viel einfacher, manchmal mit dieser verheirateten Nutte zu schlafen, oder? Das macht man doch so, nicht wahr?»

Ihre Wildschweinköpfe

Da hatten wir schon viele Sitzungen gehabt. Ich lag falsch. Und es wäre nicht anders gewesen, wenn du es gewusst hättest, Kristen. Darum gebe ich auf. Es hätte nichts geändert, du hättest nie mehr spüren können. Als das Telefon aufhört zu klingeln, reisse ich mich los. Ich werde kaum so blöd sein zu sagen, dass ich nie mehr praktizieren werde, aber ich werde zahlen. Ich werde die Aufsätze meiner Kollegen übersetzen und hoffen, sie werden wenigstens ihre Wildschweinköpfe behalten können. Vielleicht wird mir der Songtext einfallen. Es wird mir leidtun. Kristen. Das ist das Schlimmste. Unerträglichen Schmerz, unerträgliche Schönheit nur aus Songs zu kennen.

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

Leila trauert

Kindergarten Cop 2