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Bald wird es hell

Er würde noch eine lange Zeit reden. In der Küche. Er würde eine Ewigkeit reden, in der Küche in Luzern, in der sie seit fast zwölf Jahren wohnten. Aber er redete eigentlich nicht mir, er brüllte sie an. Noch immer erstaunt darüber, dass er Musiklehrer war. Sie sass nur da

Sie hörte die Worte nicht mehr, aber in ihrer Brust war ein Knoten, der immer härter wurde, früher hatten ihr die Ausbrüche noch den Atem geraubt, aber jetzt legte sich einfach ein Panzer um ihre Brust, so als sei ihre Brust aus Stahl, an dem das alles abprallte.

Da kauerte sie auf dem Küchenstuhl, auf dem ihr Platz war. Auf jenem Stuhl, auf dem sie schon gehockt hatte, als er noch Songs wie Bob Dylan geschrieben hatte. Genaugenommen dachte sie, ich sass auf diesem Stuhl und wartete bis ein Song fertig wurde. Es sei schon schlimm genug, dass er Lehrer sei, aber noch schlimmer wäre es, dass er MUSIKLEHRER sein müsse. Unmusikalisch, die Schüler. «Und die Weiber», sagte er: «Und die Weiber haben keine Ahnung und üben nicht am Instrument und glauben sie können einen einfach schöne Augen machen». Ihre Brust fühlte sich tot an, aber immerhin bekam sie Luft. Sie wusste, «die Weiber» waren nur der Anfang.

Durch nichts gefährdet

Fola konnte nicht sagen, wie lange sie schon vor dem Gefängnis in Sursee auf und abging. Sie hatte keine Ahnung, warum es so lange dauerte. Sie wünschte, sie hätte ein Mobiltelefon hinter dem sie sich verstecken konnte. Klar, sie hatte eins, aber sie hatte es in Lausanne gelassen. Die Entlassung ihres Bruders sollte durch nichts gefährdet werden. Nach all den Jahren war sie immer noch ein bisschen abergläubisch.

Hinter der Strafvollzugsanstalt sank die Sonne langsam, die Dämmerung farblos. Schwer zu sagen, wie der nächste Tag werden würde. Fola war es langweilig. Ab und zu zischte sie ein Uniformierter an. Dummerweise war sie es gewohnt, wie ein Gegenstand behandelt zu werden. Obwohl sie nur schlecht auf deutsch lesen konnte, wusste sie, dass nigerianische Frauen in diesem Land oft als Nutten angesehen wurden. Und Nutten hatten es auch in Lagos nicht gut. Aber in der Hafenstadt waren die Sonnenuntergänge stärker, über dem Meer versprach das Sinken der Sonne Hitze oder Sturm. Nur während der Zeit des Windes, während dem Harmattan war es schwer zu sagen, was kommen würde. Aber während der Zeit des Windes erwartete das auch niemand.

Er war einfach losgegangen. Nach der Schule. Er würde nicht weinen. Er würde sich nicht schon wieder verirren, aber ganz sicher würde er auch nicht warten. «Karl, Karl», hatte die Französisch-Lehrerin gesagt, «Karl, stimmt was nicht?» Er hatte den Kopf geschüttelt, seinen Schulranzen geschultert und war losgegangen. Er würde nicht länger warten. Schon klar, Mami konnte nichts dafür, dass sie so oft zu spät war. Karl wusste, die Arbeit war schwer, und seit der neue Chef da war, musste Mami noch viel mehr Sachen fertigmachen als vorher und darum konnte sie ihn nicht immer abholen. Aber die Französisch-Lehrerin hatte ein Auge auf ihn geworfen und er musste weg. Sonst würde sie wissen, Mami schaffte es nicht.

Alles erledigt!

Bruno hatte seinen Schreibtisch aufgeräumt gehabt. Alles erledigt! Für manche Leute keine grosse Sache. Für ihn schon. Er mochte Ordnung. Als Frau Kraus an seine Türe klopfte war ihm aber schon klar, der Kampf war umsonst gewesen. Die Französisch-Lehrerin steckte gerne ihre Nase in Dinge, die sie nichts angingen. Sie war empfindsam, gescheit, auch schlagfertig. Aber Frau Kraus brachte Unordnung. «Was kann ich heute für Sie tun?»

Frau Kraus musterte seinen Schreibtisch mit übertriebener Gründlichkeit. Obwohl er selbst unterrichtete, fühlte er sich einen Moment lang ertappt. Aber an seiner Ordnung konnte es nicht liegen. «Es ist der kleine Karl, etwas stimmt da nicht. Da sollten wir uns darum kümmern. Auch die Mutter habe ich noch nicht erreicht.»

«Was den kleinen Karl anbelangt, hat uns die Mutter versichert, dass es nicht schlecht laufen würde, sie müsse sich nur an ihren neuen Job gewöhnen. Die Schulleitung hat da keine Bedenken.»

Ob die Arbeit im Gefängnis ordentlicher war, weniger chaotisch als an einer Schule, wo alle möglichen Leute immer irgendwelche Probleme machten? In letzter Sekunde unterdrückte Bruno den Seufzer, der sich in seiner Brust wie eine kleine Explosion zusammenballte. Er hasste diesen Schulleitungsscheissdreck. Es war zu schwierig. Er versuchte dem Blick von Frau Kraus standzuhalten. Er wusste schon, was sie sagen würde. Seine Gedanken trieben ab, hin zum Musiklehrer. Kein schlechter Kerl. Dani. Eigentlich war er lustig und Ordnung konnte man von ihm nicht erwarten. Natürlich hatte er ihn wieder nicht befördern können, natürlich gab es für jemanden, der so unberechenbar war, kein festes Pensum. Aber Bruno mochte die Ordnung, die Dani in Beethovens Sturm brachte. Eine ländliche Idylle, über der sich ein Sturm entlädt, nach klaren symphonischen Regeln. Man muss Leute mögen, die mehr wissen.

Falsch und dumm

«Die Songs, die du in dieser Küche nicht geschrieben hast. Das Geld, das du nicht verdient hast, die Jobs, die du nicht bekommen hast. Das ist doch alles scheissegal. Ich bin doch noch hier und ich habe mich nicht beklagt. Immerhin ist uns manchmal noch was eingefallen, hier in dieser Küche. Hier haben wir Kopfweh-Wein gesoffen, dann auch mal besseren Rjioa und manchmal haben wir einfach nur gevögelt, ohne wissen zu wollen, warum. Das ging manchmal gut und manchmal war es nur lächerlich. Das war es, was wir waren. Wir redeten gerne, in der Küche und im Bett. Hatten Geheimnisse, die, wie wir meinten, nur wir hatten. Das falsch und dumm. Doch wir waren OK. Aber es gibt keinen Grund dafür, dass ich deine Klagemauer sein muss, dass du jammerst, schreist und brüllst und mir erklärst, was für mich lange kein Geheimnis mehr ist. Es tut mir leid, aber ich scheisse auf Beethoven, es ist mir egal, wie die ländliche Idylle zu einem Sturm hochbraust. Ich kann dir nur sagen: Ich scheisse auf Beethoven. Aber ich sage schon lange nichts mehr. Weil ich es nicht mehr kann.»

–Was kannst du einer Mauer sagen? Was Isa? Was kannst du denen sagen, die deinen Bruder hinter Mauern sperren. Was würdest du deinem vertrottelten Bruder sagen, der jedes Klischee von diesen Typen in diesem Land bedient und mit stolzen 23 Jahren denkt, er sei ein Top-Dealer, wenn er etwas Koks vertickt? Was kann man einer Sonne sagen, die schlaff und farblos einfach schlafen geht, ohne den Sternen Platz zu lassen. Es ist dir langweilig. Du wartest schon zu lange. Vielleicht werden sie deinen Bruder aus dem Land schmeissen. Wäre das so schlimm? Du weißt es nicht.

Nicht hilfreich

Es war jetzt das vierte Mal. Sie schaffte es einfach nicht den Papierkram in Ordnung zu bekommen. Der Anruf des Schulleiters war auch nicht hilfreich. Die Französisch-Lehrerin sei bei ihm gewesen. Ob mit Karl alles klar sei? Nichts war klar und natürlich nahm Karl das neue Mobiltelefon auch nicht ab. Sie liess es auch bei der Lehrerin lange klingeln und die Wärterkollegen halfen ihr auch nicht. Entlassungen seien eben kompliziert. Vor allem diese Entlassungen. Ihr war schnell klargeworden, es gab Unterschiede bei den Verbrechern. Da waren «gute» und da waren «schlechte» Verbrecher. Eigentlich fand sie Isa keinen schlechten Kerl. Er schien mehr Angst vor ihr zu haben, als sie vor ihm je hätte haben können und besonders hartgesotten kam er ihr wirklich nicht vor. Aber das Urteil war gefallen. Es klingelte ins Leere. Im Büro bekam sie einen Stempel, einen zu wenig. Sie war verzweifelt, wo war der kleine Karl? Sie vergass die Bestätigung der Schwester, dass Isa zunächst bei ihr wohnen könnte. Langsam wurde sie wütend, da konnte sie Isa so lange traurig anglotzen wie er wollte. Irgendwie war es sein Fehler.

Natürlich hatte sich der kleine Karl verirrt. Inzwischen war ihm klar, er hätte auf die Lehrerin hören sollen. Im Grunde mochte er sie ja. Und sie hatte ihm gesagt, sie würde mit ihm warten. Sie hätte noch Arbeit, die sie auch in der Schule machen könnte und da könne er doch einfach bei ihr bleiben. Wenn es länger dauere, könnten sie zusammen einkaufen gehen. Kein Problem. Die Strassen schienen ihm seltsam, er kannte sie nicht, es hatte viele Kreuzungen und er war nie an dem Hasenstall vorbeigekommen, der ihm den Weg gezeigt hätte. Wehmütig dachte er an die Hasen. Er mochte es mit Mami die Hasen anzusehen. Sie ihr zu zeigen. Er hätte sie vielleicht sogar der Lehrerin zeigen können. Aber jetzt war es zu spät.

Zigaretten

Fola erinnerte sich an Zigaretten. Das war ihre Lieblingserinnerung. Zigarettenverkaufen auf der Brücke. An manchen Ständen waren da auch Bücher gewesen, aber dafür hatte ihre Familie nie genug sparen können. Obwohl sie nicht rauchte, liebte sie bis heute Zigaretten. Eine Zigarette gab ihr Sicherheit. Brücken und Zigaretten, ein solides Geschäft. Sicher, sie verbuchte heute Kreditkarten am Computer in einem Keller einer Bank. Sie konnte sich eine Wohnung in Lausanne leisten und sie musste weder ihren Vater noch ihre Mutter fragen, wenn sie Sex haben wollte. Klar, sie hatte Isa nie wirklich gesagt, dass sie eine Freundin hatte, aber er hatte mit ihr auch nie über das Koks geredet, selbst dann nicht, als sie ihm einen Job in Lausanne hatte verschaffen wollen.

Nach dem Ärger mit Bruno hatte sich Frau Kraus zwei, drei Gläser Apérol-Spritz genehmigt, sie war entnervt. Ihr war klar, es ging schief. Sie wollte darüber nicht urteilen. Sie wusste, Dinge gingen schief, mehr als man denkt. Konnte sein, sie liess etwas mehr Dampf ab, als nötig. Konnte sein, sie war wirklich geil. Konnte sein, sie hatte ihr Haar heruntergelassen und sich nochmals einladen lassen. Konnte sein. Auf jeden Fall hatte sie nochmals versucht, die Mutter zu erreichen. Konnte sein. Sie wollte gevögelt werden. Hätte sie es gewusst, hätte sie die Anrufe des kleinen Karl gehört. Hatte sie aber nicht. Sie hatte alle verpasst. Ein Musiker, wird sie denken, ausgerechnet ein Musiker, nur ein Schriftsteller wäre noch schlimmer gewesen, wird sie denken.

Nur mit ihr schlafen

Eigentlich will er nur mit ihr schlafen. Aber er brüllt sie an. Eigentlich hat er einen tollen neuen Schüler bekommen. Der kleine Karl kann Dinge, die er nie können wird, und er hat sich damit abgefunden. Aber dieser Junge wäre ein Lichtstreif am Horizont. Stattdessen wird es in der Küche dunkel. Und er kann nicht aufhören. Eigentlich will er nur sagen, er wird nie einen Song schreiben, er will sagen, er ist enttäuscht, weil ihn Bruno nicht festangestellt hat. Schlussendlich würde er gerne sagen, es wäre OK, wenn sie ihn OK fände. Er würde gerne zugeben, dass nie ein Song fertigwerden würde.

Die Ordnung in seinem Haus beruhigte Bruno nur kurz. Ordentliche Frau, ordentliche Kinder. Es erschien ihm unrealistisch. Es erschien ihm chaotisch. Er schaute aus seinem glasklaren Fenster und die Ordnung hier im Innern erschien ihm falsch.

Sie stand langsam vom Küchenstuhl auf. Sie sagte: «Heute werde ich dich nicht töten. Aber mach das nie wieder.»

Die Erleichterung

Als die Polizei den kleinen Karl aufgriff, war es schon dunkel. Er wurde zu seiner Mami in das Gefängnis in Sursee gebracht. Auf den Entlassungspapieren von Isa fehlte noch immer ein Stempel. Der nigerianische Dealer wurde zurück in seine Zelle gebracht. Schwer zu sagen, was Isa dachte, als er seine Zahnbürste ins vertraute Regal stellte und sich vom Gemurmel des kleinen Fernsehers – das er nicht verstand – in den Schlaf wiegen liess . Schwer, die Erleichterung des kleinen Karl und von seinem Mami zu beschreiben.

Unterdessen brüllte Bruno in seiner Küche seine Frau an, die fühlte, wie es in ihrer Brust schwer und schwerer wurde, während sie ihm überrascht nicht erklären konnte, was plötzlich in seinem Leben schiefgegangen war, da die Ordnung ja eigentlich in Ordnung war. In der Dunkelheit wartete Fola vor den Mauern des Gefängnisses auf ihren Bruder, der nicht vor dem Morgen rauskommen würde. Am Himmel war kein Mond zu sehen.

«Bald wird es hell», sagt er, so hätte der Song heissen sollen, sagt er. «Ich habe dich nicht getötet», sagt sie. Und Fola wartet noch immer und es ist Neumond.

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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