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Dass der Himmel schon immer der Boden war

Den Regeln der Natur folgend, müssten die Wespen jetzt schlafen. Tun sie aber nicht. Sie umschwirren meinen Kopf, zu Hunderten, ein veritables Kampfgeschwader.

Links oberhalb des Zeitstroms

Ich realisiere, obwohl ich betrunken bin, mehr als nur ein bisschen, dass es sich dabei um eine Prüfung handelt. Absender ist gewiss jene berühmte Bastelstube, in der die grossen und kleinen Realitäten dieser Welt zusammengefügt werden, wo Werkerinnen und Werker, Wirkerinnen und Wirker, Weberinnen und Weber arbeiten, in einer seltsamen Villa, die links oberhalb des Zeitstroms liegt, jenseits des Rands der Ausdehnung des Raums, welche am Ende ja auch nichts anderes darstellt als eine besonders tiefe Schlucht.

2

Hände in den Schoss

Die Motive, die Moral, welche der Bastelei zugrunde liegen, sind der menschlichen Vorstellungskraft nicht zugänglich. Wir können auf die unzähligen Hervorbringungen dieser diffizilen Bastelarbeit bloss reagieren, können sie ertragen oder uns verabschieden, aus dem Kreis der Lebenden. Schliesslich bin ich allergisch gegen Wespenstiche. Deshalb muss ich nun ganz ruhig werden, den Mund geschlossen halten, die Hände in den Schoss legen, ach, wie viel lieber würde ich sie im Schoss von Taura versenken.

Die komplexe Maschinerie meiner Nerven, meiner Muskeln muss ich nun herunterfahren, wie sie einst in der Blitz- und Donner-Manufaktur zu sagen pflegten. Dabei spielt der Atem eine Hauptrolle, die männliche; die rasende Flut der Gedanke spielt wohl jene andere, die weibliche. Oder wäre die korrekte Zuordnung der Geschlechter genau umgekehrt?

Aus dem Rahmen steigen

Ich entrücke mich also, entsteige dem Rahmen des Alltags, hinab in die feuchten Kellerverliesse, hinauf in die himmelblauen Höhen des Bewusstseins, von dem ich nun wirklich nicht weiss, ob ich es, vielleicht auch nur in einem gewissen Umfang, teile – mit anderen Menschen, mit Dämonen, mit noch fremderen Entitäten – oder ob es mir ganz allein gehört.

3

Ohne eine mächtige Göttin

Ich finde sie in den Tiefen, ich finde sie in den höchsten Höhen: Taura. Verkörperung jener weiblichen Macht, die kein Mann jemals bändigen kann oder soll, nicht einmal im Haus seiner eigenen Seele, nicht einmal im Wasser seiner eigenen Gefühle und schon gar nicht im garstigen Garten seiner Wünsche. – Das kann man wirklich mit einem Auge sehen, da braucht man gar nicht beide dazu.

Jedenfalls hätten sie den Barbaren damals den Katholizismus niemals verkaufen können, ohne eine mächtige Göttin mit in der Schatulle zu haben, so eine wie Istar, Aphrodite, Durga. Sie haben dann bekanntlich Maria aus dem Ärmel gezogen.

4

Anima, Babalon, Kalikaye Namah

«Anima», hat C.G. Jung nüchtern gesagt, mit jener Nüchternheit, in der immer ein Quäntchen jener Geilheit mitschwingt, die Frau und Mann keineswegs unterschätzen sollten. «Babalon», hat Frater Therion in die sternenlose Nacht der Ekstase hinaus gerufen, während er das verbotene Gefäss über den Rand hinaus füllte, sein heiliges Elixier hinein schüttete, bis es überlief, dabei den Kosmos überschwemmte, mit einer neuen Religion, welche im Rausch allein die Seligkeit verortet. «Om Krim Kalikaye Namah», hat Sri Ramakrishna endlos vor sich hingesungen, während er die Statue der Grossen Schwarzen Mutter wusch, zu Dakshineswar, sie fütterte, streichelte, kleidete, entkleidete, küsste, jeden Tag, jede Nacht, dies hat er nackt getan, Schminke im Gesicht, dabei erfuhr er eine heilige Entrückung, die ihn weit hinausgetrieben hat, just nach dort, wo Tag und Nacht, Winter und Sommer, Leben und Tod keine Rolle mehr spielen. Und ich heule: «Taura!»

Bis sich alle Verhältnisse umdrehen – und ich realisieren muss, dass der Himmel eigentlich schon immer der Boden war. Nun weiss ich nicht mehr, ob ich falle, ob ich fliege.

Madame Ocean

Gleichsam wie eine Kameralinse, an einer Wolke befestigt, vielleicht mit Draht, sehe ich Taura, sehe ich mich selbst, ein Schwarz-Weiss-Film namens «Verklärte Vergangenheit», dabei empfinde ich nichts. Ausser einer vagen Neugier. Wir retten gemeinsam einen kleinen Vogel, der aus seinem Nest gefallen ist, päppeln ihn wochenlang auf, lassen in wieder fliegen, an einem schönen Sommertag, glücklich zwitschert er zum Abschied.

Wir treiben Spiele des Fleisches, in einem blausamtenen Gemach, sie kniet auf einem gepolsterten Hocker, der extra zu diesem Behufe geschaffen wurde, trägt lediglich das Araxie Chemise with Pearls von Frederick’s of Hollywood, streckt mir ihren Mond entgegen, die Backen mit beiden Händen spreizend, sie ist die unendliche Madame Ocean, die bekanntlich drei geheime Namen trägt. Ich bin lediglich ein Narr, in einer erbärmlichen Nussschale unterwegs, der bloss ein einziges Ruder zur Hand hat, nicht einmal ein Segel.

1

Im ewigen Regen

Wir kaufen von einer Mamsell Brot und Wein, feilschen um den Preis, geraten mit der Alten in Streit. «Töte sie…», flüstert mir Taura ins Ohr, dies tue ich sogleich, indem ich sie erwürge. Danach tanzen wir durch die Strassen, lachend, im ewigen Regen, der auf das Land der Verfluchten fällt. Ich breche das Brot.

Taura entkorkt die Weinflasche. Fleisch und Blut, geopfert auf dem Altar einer fröhlichen Obszönität, die gewiss aus jener Bastelstube stammt, in der die grossen und kleinen Realitäten dieser Welt zusammengefügt werden. Danach bleibt nichts mehr. Bis auf die Gewissheit, dass sich das Wespengeschwader verzogen hat. Ich stehe also auf, zünde mir eine Cigarre an: Cohiba Lancero. Wenn ich nun noch eine Phiole Laudanum hätte, so wäre ich wahrlich ein glücklicher Mann.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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