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Nacht aus Blei

Der Klang der Glocke verlor sich hell in der dunklen Winternacht. Auf dem Hügel stand eine seltsame, kleine Kirche. Scheinbar war sie eine der ältesten der Stadt, wohl deswegen läutete sie so fleissig. Manchmal stellte er sich vor, ein besonders gläubiger Pfarrer sei am Werk, der immer wieder in seine Kirche eilte und seine Glocke in Schwung brachte.

Er stellte sich das Schaukeln des mächtigen Klöppels vor, der die Heiden unten in den Seitenstrassen mit mächtigen Schlägen vor schlimmen Sünden bewahren sollte.

Aber er mochte die Kapelle, mochte ihr Läuten. Das Gebimmel war wie eine Erinnerung, die immer wieder auftauchen wollte, es aber nie ganz an die Oberfläche schaffte. Die Kirche auf dem Hügel eine Frage, die er sich nie ganz zu stellen wagte. Er ging zum Fenster der Dachwohnung. Die Dächer schimmerten kalt und der Mond war weit weg. In der Seitenstrasse war es still. Drinnen fühlte er sich seltsam körperlos, fast unwirklich.

In den Sand gegriffen

Er mochte die Idee, dass sie einmal ein kleines Mädchen gewesen war. Er stellte sich vor, dass sie gut aufgehoben sei, mit vollen Händen in den Sand griffe, über blühende Wiesen gerannt wäre und auch wie sie Blumen sammelte, die alle verschiedene Farben hatten. Er stellte sich vor, wie sie sich freute und einem Ball hinterherrannte. Er stellte sich vor, dass sie einmal so jung gewesen war, dass für sie ein Überraschungsei noch eine Überraschung gewesen war, und dass die Eltern lächelten, wenn sie sie in der Nacht im Bett liegen gesehen hatten und wussten, dass sie ruhig und regelmässig atmete und sie sich alle auf den nächsten Tag, auf die Zukunft mit ihr freuen konnten. Er hatte selbst Kinder gehabt und kannte das Gefühl. Allerdings machten ihn seine Kinder selten so sentimental. Aber das hatte er ja erlebt, es war sein Leben gewesen. Kein Grund sentimental zu werden.

Keine Ahnung, warum er an ihre Mädchenzeit dachte. Es fühlte sich an, als sei er nackt an einem Strand angeschwemmt worden. Und eine von einer Nonne angeführten Truppe Pfadfinder wäre schon hinter den Dünen im Anmarsch. Er fühlte sich ertappt, obwohl er ihr nur die besten Erinnerungen an ihre Mädchenzeit wünschte. Dabei war klar, soviel wusste er nicht über sie, und es konnte gut sein, dass sie ihre Eltern vielleicht gar nicht besonders mochte. Vielleicht war sie bei schlimmen Tyrannen aufgewachsen, Leuten, die sie gar nicht besonders mochten. Ihn schauderte, aber die Vorstellung vertrieb immerhin das Bild vom Angeschwemmtsein und den singenden Pfadfindern.

Mehr zum arabischen Meer

«Es gibt Dinge, die du tun solltest», sagte seine Schwester einige Tage später am Meer. In Palolem Beach in Goa war die Saison eben zu Ende gegangen. Die Reiseführerin hatte ein bisschen mehr Zeit als sonst. «Es gibt Dinge, die ich irgendwie nicht recht hinkriege», sagte er mehr zum arabischen Meer als zu Anja. Die Bucht viel flach ab und auch die Fischer, die hier ihre Nachen sanft ins Wasser gleiten liessen, schienen Pause zu machen. Er sah sich nach einem Ort um, wo sie sich hinsetzen konnten, über den warmen Sand zu schlendern schien plötzlich eine unmenschliche Anstrengung zu sein.

«Ich war schon an vielen Stränden», sagte er.

«Viele Leute waren an vielen Stränden», grinste seine Schwester.

Kleiner Garten

Sie musste irgendwo aufgewachsen sein. Aus der gleichen Stadt stammten sie jedenfalls nicht. Vielleicht war sie in einem Einfamilienhaus aufgewachsen. Hinter dem Haus ein kleiner Garten. Dort hatte sie laufen gelernt. War das erste Mal hingefallen. Aber der Rasen hatte sei weich fallen lassen. Als Mädchen schien sie in sich selbst zu ruhen. Friede und Schmetterlinge um es herum. Die Welt eine schützende Muschel, die sich rechtzeitig schloss, so bald ein Sturm drohte.

Fast hätte er ihren Namen in den Sand geschrieben. Eine hilflose Geste. Aber sie wäre der Wahrheit nahe gekommen. Anja grinste, als sie es merkte, sie tastete über ihre Shorts auf der Suche nach Zigaretten und konnte ihr Lachen kaum unterdrücken.

«Alter, du magst ja viele Strände gesehen haben, aber jetzt hat es dich erwischt.» Seine Schwester schien zu überlegen, ob sie ihn noch mehr auslachen sollte. Und sie hätte nicht unrecht gehabt. Aber sie wusste, er war lange geflogen, um mit jemandem zu reden. «Ach, komm, du machst das schon. Das wird schon gutgehen, du musst halt mit ihr reden. Das schaffst du schon.» Sie schwieg einen Augenblick lang und stellte fest: «Ok, wenn du schon mit ihr geredet hast, dann …» Sie sahen beide aufs Meer hinaus, dass sich postenkartenhaft blau zu kräuseln schien.

Nach vielen Stationen

Eine Winternacht. Dunkle Gemütlichkeit in einer Bar. Nach einem langen Tag eine Station nach vielen Stationen. Das Zwielicht Versprechen und Fluch zugleich. Ausgerechnet das Zwielicht warf ein viel helleres Licht auf die Dinge, als er sich eigentlich gewünscht hatte. Sie hatten Wein und Bier. Da sie sich schon ein paarmal begegnet waren, fiel es leicht zu reden. Vielleicht zu leicht.

«Ich habe zu viel geredet. Wahrscheinlich habe ich viel zu viel geredet», sagte er in Palolem und erstmals wurde ihm klar, dass seine Schwester wahrscheinlich im Alltag sehr viel mit Touristen zu tun hatte, die viel zu viel redeten. Anja reagierte nicht, sie hatte die Augenlider geschlossen, liess sich von der Sonne wärmen und schien durchzuatmen, falls man eine zu rauchen durchatmen nennen konnte. «Viel reden ist in Ordnung, man kann eigentlich nicht zuviel reden. Ausser man redet quatsch.»

«Wahrscheinlich habe ich scheiss geredet, viel scheiss.»

«Es ist nie scheiss, wenn man über sich selbst redet, das weißt du genau. Scheisse ist es nur, wenn es leeres Gelabber ist, dann ist es langweilig.»

«Dann hätte ich besser aufpassen müssen, ja, ich hätte besser aufpassen müssen. Wir haben viel getrunken.»

«Bin ich jetzt Krankenschwester hier, das ist Gelabber von dir, Selbstmitleid, ihr wart doch beide erwachsen als ihr dort wart, oder? Man braucht Frauen nicht zu bevormunden, die kriegen schon hin, das zu machen, was sie wollen.» Naja, daran hätte er jetzt nicht unbedingt gezweifelt. Er grinste verzweifelt. Er konnte die Schatten einfach nicht vertreiben.

Im auf und ab der Wellen

Die Farben schienen klarer umrissen hier, die Kontraste farbiger. Einheimische Kinder rannten über den Strand, ohne vertrieben zu werden. Normalerweise scheuchten die Hotelleute sie weg, da sie sonst die Touristen, die für ihre paar Quadratmeter weisser Sand zahlten, stören konnten. Einen Moment verloren sie sich in der Sonne, im auf und ab der Wellen. Es schien fast so, als seien die Dinge so, wie sie sich anfühlten: Das Lachen der Kinder, die Rufe der Fischer, die leichte Bise, das stete Rollen der Wellen, das Unendlichkeit und Erinnerungen versprach.

Tequila Sunrise. Sand und Palmen. In Goa war es Abend geworden. Leuchtende Sterne am Himmel. Sandra rührte mit einem neongrünen Stäbchen in ihrem Drink und sein Kopf fühlte sich ebenfalls etwas leichter an. Die Bar im Hawaii-Look fühlte sich falsch an, aber der Wind am Strand war mild und das Raunen des Meeres ein Versprechen. «Blumen, Tanzen, ein Spaziergang, das kriegst du schon hin.»

In der Stadt glitt das Taxi durch eine seltsam stille und schwarze Welt. Das Licht in den Häusern schien weit entfernt. Das fehlende Vibrieren des Flugzeugs liess ihn die Geräusche der Stadt, die er gut kannte nur erahnen. In den Polstern des Mercedes der ihn – nun ja, mehr oder weniger direkt – nachhause in die Seitenstrasse bringen würde, fühlte er sich als Fremder in einem fremden Land. Mag sein, zurückkommen ist immer schwer, oder unmöglich, aber diesmal erschien es ihm absurd. Der Taxifahrer schien ihn zu kennen. Doch er war immer noch weit weg und hörte nicht zu.

Hoch zur Kapelle

Mit den Koffern machte er sich in der Wohnung keine Mühe. Er liess sie am Eingang stehen, wo sie ihm dann den Weg versperren würden. Am Fenster sah er hoch zur Kapelle. Sie strahlte, angeleuchtet von ihrer Historie und gut platzierten Scheinwerfern, hell und klein auf dem Hügel. Aber die Glocke schwieg. Es schien, als sei sie zufrieden, irgendeinen Teil von ihm erwischt zu haben. Wie ein Hohn schien ihr Schweigen zu sagen, wenn du Trost willst, wenn du raus willst, dann musst auf meine Bleiwände einprügeln, bis deine Fäuste bluten. Sonst kannst du lange warten.

Die Songs in der Bar waren nicht schlecht gewesen. Marvin Gaye, etwas Otis Redding und vielleicht Lana del Rey. Schwer fassbar alles. Gäste kamen und gingen, andere blieben. Er mochte es, mit ihr zusammen zu sein, ihre Geschichten schienen die interessantesten der Welt zu sein, und alles andere war egal. In dieser Zeit, die hypnotischem Soul folgte, schienen sie in Ordnung. Beide.

Du hast keine Ahnung, warum es plötzlich so schnell geht, ihre Stimme ist hypnotisch, aber du verstehst nicht mehr richtig, was sie sagt. Die Worte klingen monoton, doch du spürst die Dunkelheit, die Verlorenheit. Du weißt nicht, wann sie gesagt, sie habe sich gefürchtet. Dass sie nie mehr solche Angst gehabt hatte, wie dann als sie klein war. Es tut dir leid, dass du nicht mehr genau weißt, wovor sie Angst gehabt hatte.

Halbdunkle Lounge

Grosses Bier. Halbdunkle Lounge, gelbliches Licht vor dem Fenster. Die Dinge gehen plötzlich schnell, viel zu schnell, die Klarheit, die vielleicht auch gar nicht nötig ist verschwimmt, die Winternacht, die den Atem in graue Atemstösse verwandelt, hatte ihre eigenen Gesetze gehabt. Am Ende war Dunkelheit geblieben. Bleiern und schwer.

Er fluchte, als er am Morgen über die Koffer stolperte. Die Uhr in der Küche konnte ihm auch nicht sagen, ob die Glocke oben auf dem Hügel schlagen würde. Er würde auf jeden Fall nicht länger gegen die bleiernen Wände schlagen. Aber er würde sie fragen, wie ihre Mädchenzeit gewesen sei. Vielleicht würde es ihr nicht helfen. Aber es wäre besser, als einfach nur auf das Läuten der Glocke zu warten.

 

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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