KULT-Gespräch mit Herrn Sager, der nichts hören will, dafür umso mehr zu erzählen hat. Unser Deal war also wie folgt. Wir stellen ihm vier knappe Fragen. Er beantwortet sie ausführlich. Aber wir dürfen ihm nix erzählen. Sonst schmeisst er uns augenblicklich aus der Wohnung, verbietet uns zudem die Publikation des Gesprächs. Vier magere Fragen, von einem beantwortet, dem du nichts erzählen darfst.
Wir haben uns zurückgehalten. Und Herr Sager hat monologisiert. Er ist ein – sagen wir mal – interessanter Mensch.
- KULT:
Wie geht es Ihnen?
Herr Sager: Diese Frage hat mich immer schon unendlich genervt. Sie ist grundsätzlich falsch formuliert! Das «Es» geht bekanntlich überhaupt nicht. Das steckt irgendwo in der Psyche und rumort so halb-unkontrollierbar vor sich her. Bei mir übernehmen die Beine das Gehen. Die Frage sollte also lauten: Wie gehen Sie? Und dazu kann ich nur folgendes bemerken: Vielen Dank, meine Beine sind in einem recht ordentlichen Zustand. Manchmal verspüre ich allerdings Schmerzen im rechten Knie. Dann habe ich wieder beidseitig leichte Wadenkrämpfe. Vor allem, wenn es kalt ist. Das könnte verschiedene Ursachen haben. Vielleicht liegt es daran, dass ich nun doch schon 63 Jahren alt bin. Es könnte auch damit zusammenhängen, dass ich 90 Zigaretten pro Tag rauche.
Deshalb wäre durchaus denkbar, dass es sich hier um die Anfangssymptome so genannter Raucherbeine handelt. Um das herauszufinden, müsste ich einen Arzt aufsuchen.
Aber ich gehe nicht zum Arzt. Weil der mir so Sachen erzählen will. Ich will jedoch nichts Derartiges hören. Das interessiert mich alles nicht. Ein Doktor bekommt mich höchstens dann zu sehen, wenn die Sanität mich in bewusstlosem Zustand zur Notfallaufnahme bringt. Und das ist gut so. Denn als Bewusstloser muss ich mir nicht anhören, was dort gesagt wird. Überhaupt nehme ich lieber Medikamente. Am liebsten sind mir die starken, die es nur gegen Rezept gibt. Die erhalte ich von einem Cousin. Er arbeitet in einer Apotheke. In leitender Position. Er gibt sie mir zwar überhaupt nicht gerne. Aber ich nerve ihn am Telefon jeweils so lange, bis er es doch tut, nur damit ich endlich aus der Leitung verschwinde. Blut ist schliesslich dicker als Wasser!
- KULT:
Sie wohnen im stolzen Alter von 63 Jahren immer noch bei ihrer Mutter. Hatten Sie denn nie den Wunsch, eine eigene Wohnung zu beziehen?
Herr Sager: Nein. Warum auch? Wir haben ein gutes Logis. Da gehört noch eine Mansarde im obersten Stock mit dazu. Dort habe ich geschlafen, solange mein Papa noch lebte. Seit er entschlafen ist, schlafe ich neben meiner Mutter. Im elterlichen Ehebett. Weil sie Angst vor der Dunkelheit hat, wenn sie alleine ist. Sie kann zudem nicht einschlafen, wenn auch nur das kleinste Lichtlein brennt.
Aber kommen Sie mir jetzt bloss nicht auf falsche Gedanken. Da läuft nichts Unanständiges. Ich bin schliesslich kein Ödipus. Meine Mutter ist auch schon 86 Jahre alt. Aber sie ist rüstig. Sogar um einiges rüstiger als ich selber. Sie trinkt keinen Alkohol, raucht nicht und hat auch kein Übergewicht. Bei meinen 120 Kilo auf einen Meter 69 Körpergrösse, meinen viereinhalb Päckchen Parisienne am Tag, all den Bieren, Weinen und Schnäpschen, die ich mir jeden Abend gönne, ist es auch kein Wunder, dass meine alte Mama mehr Kraft hat als ihr Sohn. Aber so soll es halt sein, ich liebe das Leben und freue mich auf den Tod.
Wenn meine Mutter einmal stirbt, werde ich 20 Rohypnol-Tabletten mit einer halben Flasche Cognac runterspülen und mich neben ihren Leichnam legen. Zwei Tage später werden wir dann beide ins Familiengrab zu meinem Papa gelegt. Dort hat es Platz für genau drei Verstorbene. Da ich ein Einzelkind bin, ist das absolut adäquat. Das haben wir alles so abgemacht, organisiert und verfügt. Das Rohypnol haben wir auch schon im Haus. Ich nehme übrigens ausserordentlich gerne Schlaftabletten!
In unserem Mehrfamilienhaus gefällt es mir. Ich bin nämlich der Jüngste hier. Alle Nachbarn sind über 70 Jahre alt. Das freut mich, denn junge Leute gehen mir auf die Nerven. Ich schaue sie mir zwar gerne auf Fotografien an. Aber wenn ich sie reden höre, zieht es mir innerlich alles zusammen und ich muss das Weite suchen. Kinder finde ich sogar noch schlimmer. Seit ich das Haus nicht mehr verlasse, werde ich mit solchen Dingen glücklicherweise nicht mehr konfrontiert. Ich bin immer froh, wenn ich der Jüngste vor Ort sein kann….
- KULT:
Hatten Sie noch nie eine Freundin?
Herr Sager: Als ich noch jung war, habe ich es einmal ausprobiert. Mit der Rosalina von nebenan. Einem Mädchen mit schönen Augen und glänzendem Haar. Sie hat leider auch immer viel erzählt. Und als wir einmal alleine auf der Mansarde waren, zog sie sogar ihre Kleider aus. Und zwar alle! Das gefiel mir überhaupt nicht. Sowas von unanständig. Ich habe sie sogleich vor die Tür gestellt. Splitternackt. Verdientermassen – oder etwa nicht? – geben sie mir bloss keine Antwort, das war eine rein rhetorische Frage!
Ich schätze durchaus die Gesichter von attraktiven Frauen. Auch gefallen mir schöne Kleider. Nackte Leute sind mir jedoch ein Graus. Wir haben ja die Tageszeitung abonniert, ein bisschen aktuelle Information brauche ich schon, wir haben hier ja keine Radio und keinen Fernseher, geschweige denn diesen modernen Schwachsinn namens Computer, der die Menschheit zusehends verdummt. Manchmal sind in der Zeitung Fotos von nackten Frauen abgedruckt. Wenn mir deren Gesichter gefallen, schneide ich sie aus und bewahre sie auf. Die nackten Körper werden sodann, mit dem Rest der Zeitung zusammen, ins Altpapier gegeben. Sie sollen ruhig verbrennen.
Ich besitze Tausende solcher Gesichter, die ich sorgsam ausgeschnitten und mittels Weissleim auf Seidenpapier geklebt habe. Sie füllen inzwischen 78 Ordner. Alles datiert und mit Quellenangaben versehen. Die kann ich Ihnen gerne zeigen. Diese Bilder anzuschauen, dazu Schokoladen-Himbeerkonfitüre-Schnitten essen und einen guten Kirsch trinken, das ist alles, was meine Libido benötigt. Die Fotos bereiten mir halt eine helle Freude – und das beste an ihnen ist: Sie wollen mir nichts erzählen. Das mit dem Sex wird meiner Meinung nach übrigens stark übertrieben. Schon seit Mitte der fünfziger Jahre…
- KULT:
Sie verlassen nun schon seit vierzig Jahren das Haus nicht mehr – was tun sie denn die ganze Zeit?
Herr Sager: Ich habe nie gearbeitet. Mein Vater hat genug Geld verdient. Wir konnten alle gut davon leben. Er hat uns auch einiges hinterlassen, das wird bis zum Schluss reichen. Zudem gehört uns ja dieses Mehrfamilienhaus. Meine Mutter erledigt alle Einkäufe und Hausarbeiten. Sie ist eine hervorragende Köchin. Sie sagt zum Glück nicht viel. Sie erzählt mir nichts. Sie stellt mir lieber Fragen. Zum Beispiel fragt sie: «Willst Du ein Bier? Einen Schnaps? Eine Cervelat? Einen Aussteller? Eine Schoggi-Crème?» Ich sage dann einfach immer: «Ja. Gerne.» So sind wir beide zufrieden. Aber sie sehen ja die vielen Bücher hier.
Ich lese die ganze Zeit. Zuhören mag ich nicht, aber das Lesen sagt mir zu, das ist nicht so laut, wie wenn jemand redet! Aber nur Bücher, die vor dem Jahr 1955 geschrieben wurden. Nachher wurde ja nichts mehr Gescheites verfasst. Lediglich selbstverliebte Ergüsse von eitlen Selbstdarstellern. Das interessiert mich nicht. Mich interessieren Plato und Napoleon, Leibnitz und Kant, Fontane und Freud. Oder die Russen: Tolstoi, Gogol, Dostojewski. Ich lese auch gerne Theaterstücke. Ich war sogar einmal im Theater.
Aber die Aufführung war unsagbar schlecht. Seither stelle ich mir die Stücke lieber vor. Das ist für meine Psyche gesünder. Ich lese gerne Berichte über fremde Länder. Doch bin ich nur einmal in die Ferien verreist, mit meinen Eltern zusammen. Es hat uns dort nicht gefallen, also sind wir nie mehr hingefahren. Die fremden Länder in meinem Kopf sind viel schöner als die real existierenden fremden Länder. Ich bin nicht blöd, wissen sie, ich bin belesen. Die Welt ist blöd. Mit all ihren schnelllebigen, nervösen, nichtssagenden Verrenkungen. Ich sage Ihnen – das kommt nicht gut!
Das wird ein Ende mit Schrecken geben! Sie werden noch an mich denken! Mich interessieren die grossen Themen, die grossen Fragen, mich interessieren das Leben und der Tod. So. Und jetzt habe ich genug erzählt…
Coda
Herr Sagers Mutter, sie hat einen ausserordentlich langen Hals, fast so lang wie eine Pythonschlange, streckt plötzlich ihren Kopf zur Wohnzimmertür rein und fragt: «Wollt Ihr ein Bier?»
Im Chor sagen wir alle: «Ja. Gerne.»
Zum Bier spielt uns Herr Sager auf seinem Trichter-Grammophon einige rare Swing-Aufnahmen aus den 1930er- und 1940er-Jahren vor. Zum Beispiel vom Alexander Olshanetzky Orchestra oder von Cole Porter. Er höre sich keine Musik an, die nach 1955 aufgenommen wurde, da diese nur egomanischen Tonmüll darstelle.
Die letzten Sätze unserer Begegnung sagt er dann, ohne gefragt worden zu sein, über Cole Porter: «Mir gefallen nur die frühen Aufnahmen, die er zu spärlichen Arrangements selbst gesungen hat. Da kommen die raffinierten Melodien und die geschickt gesetzten Texte besser zur Geltung als auf jenen späteren, kitschigen, überladenen, schnulzigen Produktionen seiner Lieder. Glauben Sie nur nicht, dass ich kein Englisch verstehe. Ich beherrsche sieben Sprachen, alle aus Büchern gelernt – in Schrift und Wort.»
Danach schweigt Herr Sager stoisch. So bricht der Abend über die Sagersche Wohnung herein. Es wird nichts mehr gefragt. Es wird nicht mehr gesagt. Angenehm! Daran könnte man sich gewöhnen!!! Doch dann müssen wir aufbrechen. Herr Sager gibt uns kein Abschiedswort mit, auf den langen, beschwerlichen Weg nach Hause. Es war ein schöner Besuch.