in

Über den Dächern

Über die Dächer fiel die Dunkelheit wie ein sanfter Schleier. Nur auf den höchsten Erkern und Giebeln glühte noch ein Rest Sonnenlicht. Nicht mehr lange und die Nacht wäre da. Mir war nicht klar, wie lange ich schon hinausgesehen hatte, irgendwann hatte die Musik aufgehört, irgendwann war Beethovens Sturm zu Ende gewesen und der Himmel verdunkelte sich immer weiter.

Es schien, als hätte ich schon eine Ewigkeit in diesem Raum unter dem Dach gesessen. Und es war eine kleine Ewigkeit geworden. Denn ich hockte in meinem Arbeitszimmer. Nur, dass ich gerade nicht arbeitete. Das Zwielicht des Abends über den Dächern, der Abend, der eben noch keine Nacht war, erinnerte mich an eine Nacht, die lange her war. Eigentlich hätte ich über die asiatischen Märkte schreiben sollen, aber es gab nichts zu sagen. Schade, denn wenn mir nicht bald etwas zum asiatischen Tiger einfiel, so gäbe es auch bald nichts mehr zu essen. Oder nicht viel. In den Fenstern gegenüber gingen langsam die Lichter an, für viele in der Seitenstrasse war es Zeit, sich vor die fahle Sonne des Fernsehers zu setzen.
Die Vögel in den Bäumen störte das alles nicht. Sie hockten auf ihren Bäumen und warteten auf den Einbruch der Dunkelheit. Auf die Zeit, in der sie endlich ihre Vogelträume träumen konnten. Der Frühling war fast vorbei, so dass sie vielleicht sogar träumen konnten, ohne zu fürchten, dass ein Raubvogel ihre Eier klaute.

Die Immobilienblase in China

Da war eine andere Nacht gewesen. Eine Nacht, in der du gefragt hattest: «Wo sollen wir hin, sollen wir die Fähre nehmen.» Du konntest ja nicht wissen, dass in der Stadt schon lange keine Fähren mehr fuhren. Aber daran wollte ich mich nicht erinnern. Drum zwang ich mich knallhart auf meinen Computer zu starren und schrieb, dass die befürchtete Immobilienblase in China wohl eine Übertreibung sei.
Erschöpft von dieser unmenschlichen Anstrengung und dem Schwachsinn dieser Aussage, dachte ich sofort wieder daran, wie du gefragt hattest: «Wir könnten hier an diesem Ufer noch etwas spazieren gehen.» Einen Moment lang schienst du verlegen, einen Moment lang scheu, aber das ging in Ordnung.  Wir folgten den Strassenlaternen und du meintest: «Nicht alle Wege müssen irgendwohin führen, oder?» Ich sah hoch in das gelbliche Licht, im Nebel konnten wir schon unseren Atem sehen: «Weiss du, mir fällt nichts so Gescheites ein».

Eine helle, verlassene Insel

Allerdings hätte ich es toll gefunden, wenn ich meinen Arm hätte um deine Hüften legen können. «Es ist nicht so, dass ich jetzt gleich aufschreiben würde, was du sagst», meintest du und ich kam mir noch bekloppter vor. Wo war Shakespeare, wenn man ihn brauchte? Mir fiel nicht der kleinste Satz ein, da war nichts. Das Museum für Moderne Kunst war eine helle, verlassene Insel. Plötzlich standen wir still. Die Gassen, die sich vor uns öffneten, die Treppen forderten eine Entscheidung. Vielleicht gar Abschied.
Mein Job war es eben nicht zu schreiben, dass sich die Investoren jetzt doch endlich vom asiatischen Traum verabschieden sollten. Auf der anderen Strassenseite öffnete eine Dame um die 40 ihr Fenster. Ihre Wohnung wollte in all ihrer Geschmacklosigkeit und Überfülltheit durch die Öffnung der Enge entkommen, aber schon stellte sie sich dem Krempel in den Weg, zündete sich eine Zigarette an und winkte erleichtert. Manchmal winkte ich glücklich zurück. Heute war mein Winken verschämt. Hoffentlich würde sie den Scheiss über den asiatischen Markt, den ich immer noch nicht geschrieben hatte, nie lesen.

Ich sehnte mich vage zurück zu dir

Die Nacht war lange her, absurderweise erschien es mir noch länger her, seit ich an sie zurückgedacht hatte. Da war nichts, wofür ich mich zu schämen brauchte, ausser eben den Scheiss, den ich über die Märkte schrieb. Gut, ich sass da über den Dächern, der Abend kam und die Nacht war noch nicht da und ich sehnte mich vage zurück zu dir, während unten in der Wohnung jemand anders mit dem Abendessen auf mich wartete. Die Kinder langsam ins Bett mussten.
In der Dachwohnung auf der anderen Strassenseite warf meine Nachbarin ihre Kippe achtlos aus dem Fenster. Entschlossen wandte sie sich ab, auf dass ihr Hausrat nicht durchs Fenster nach draussen entkam. Wir hatten uns auf eine Treppe gesetzt, obwohl es zu kalt war. Du sagtest: «Das war ein toller Abend, wirklich.»
Du zögerst und sagtest: «Siehst du, jetzt habe ich auch etwas Dummes gesagt.» Verlangen ist eine seltsame Geschichte, Unschuld auch. Ich fand es ganz toll, was du sagtest, obwohl ich es auch anders hätte verstehen können.
«Alles in Ordnung?», fragte Mirjam. Wahrscheinlich war das Essen fertig.
«Mir fällt nichts ein», log ich. Schuldbewusst, weil mir eben klargeworden war, dass mir schon etwas einfiel, nur dass es dabei leider nicht um die asiatischen Märkte ging.

Da wären noch viele Dinge

«Du wirst das schon hinkriegen, komm doch etwas essen, dann geht’s nachher vielleicht besser.»
«Gib mir noch ein paar Minuten, dann komme ich runter», sagte ich und fühlte mich von so viel Nettigkeit ertappt. Wir hatten die Treppe verlassen, das Verlangen war gross gewesen, aber unerfüllt geblieben. Leichtsinn oder Arroganz der Jugend, die Sterne schienen noch immer erreichbar, Gelegenheiten auszulassen gehörte dazu. Du sagtest: «Es gibt viel, was ich dir erzählen könnte.» Natürlich hast du das nie getan. Ich hatte gesagt: «Da wären noch viele Dinge, die ich schreiben müsste.»

Über den Horizont

Über uns funkelten sie, die Sterne, kalt und unnachgiebig und manchmal zog eine Rauchwolke aus einem hohen Kamin über den Horizont. In Nächten wie diesen verloren sich die Träume in der Ewigkeit. So dass noch Träume für andere blieben, weiter zu träumen. Die Nachbarin winkte mir nochmals wild durchs Fenster, als täte es ihr leid, vorhin einfach so, ohne jeden Abschied mit dem Rauchen aufgehört zu haben. «Bald werden wir uns wiedersehen», sagtest du vor deinem Hotel. Wir hatten uns nicht geküsst. Es war Zeit endlich zum Abendessen runterzugehen. Der Zustand der asiatischen Märkte würde ich später noch schönreden können. Und die Dinge, die ich nicht geschrieben hatte, die würde ich später auch noch nicht schreiben können.

Gefällt dir dieser Beitrag?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

Schlappe für Schweizer Schlapphüte. (Die Woche 19/2017)

Der namenlose Nachtclub und die Vampire von New Orleans