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Das Kind der Theaterschlampe

Ich hatte Catherine nicht gut gekannt. Aber ich hatte sie gekannt. Die Dinge, die man ihr jetzt vorwarf, hätte ich ihr nie zugetraut. Angefangen hatte es harmlos, so wie diese Dinge eben anfangen. In der Provinz. Bevor sich die ganze Wut und das ganze Elend über ihr entluden.

Wir waren uns an Sitzungen der Gemeinde begegnet. Gemeinsam war uns die Abneigung gegen das lange Gerede gewesen. Für mich war sie eine nicht mehr ganz junge Frau gewesen, die ihre Erfahrungen gemacht hatte, offen mit ihnen umging und letztlich dafür kämpfte irgendwie durchzukommen. Niemand würde sagen, sie sei eine übertriebene Schönheit, aber klar, an einem Apéro des Gemeinderates, nach der Sitzung der Schulpflege, war sie eine begehrte Gesprächspartnerin. Es ist sicher nicht falsch zu sagen, der Platz neben ihr im Rössli war begehrt.

Nur einmal habe ich wirklich mit ihr geredet. Es war Winter und wir standen etwas gedrängt und atemlos rauchend in der Kälte unter der Balustrade des Restaurants. Unser Atem vermischte sich mit den Rauchwolken und in der leeren Dunkelheit vor uns, staunten wir frierend über die Wolken, die wir erzeugten. «Es ist halt eine Sucht», sagte Catherine, zitterte ein wenig und schüttelte trotzdem ihre Haare. Ihr Theaterprojekt war eben gestrichen worden. Ich bot ihr meine Windjacke an, aber sie lehnte ab. Das Lachen war ihr trotzdem nicht vergangen, sie sagte grinsend: «Ich habe nicht erwartet, dass sie es wirklich verstehen würden.»

Falls es stimmte, so hatte die Trennung von einem der jüngeren Gemeinderäte, einem Gärtnermeister, der natürlich seine Frau betrog, wenig zu diesem Verständnis beigetragen. Aber das wurde jetzt schwerer und schwerer zu sagen. Mag sein, es hatte eine Affäre gegeben. Mag sein, Catherine mochte Liebeleien. Mochte gut sein, die Aufmerksamkeit in der Provinz wäre ihr in den Kopf gestiegen und sie nutzte das vielleicht ein bisschen aus. Immer noch, das wäre ihre Privatsache. Sie als Sexbesessene zu beschreiben, erschien dennoch als schwer übertrieben. Doch ich hatte Catherine nicht gut gekannt.

Vor dem Rössli war es kalt. Catherine brauchte ein bisschen Abstand. «Weißt du, so aussergewöhnlich ist das nicht. Andere Dinge sind wichtiger als das Theater, aber es wäre schon lustig gewesen».

«Die anderen Dinge sind Parkplätze, irgendeine Halle, die niemand braucht, vielleicht wäre dein Projekt ganz gut geworden.» Ich hatte leicht reden. Soviel war ich in der Gemeinde gar nicht unterwegs. Ich regelte ein paar kleine Dinge, hörte viel zu, schickte eine Rechnung und war dann wieder weg. Das tat ich für viele Gemeinden. Und ausser kleinlichen Streitereien geschah dabei selten viel. In all den Jahren war nur Catherine zu landesweitem Ruhm gekommen.

Als ich das nächste Mal bei einer dieser Sitzungen hatte dabei sein müssen, war Catherine sehr still gewesen, aber es war klar, sie würde die Geschichte mit den Flüchtlingen machen. Gleichzeitig würde sie das Heim auch leiten. Plötzlich war sie in der Gemeinde jemand. Im Grunde fühlte ich mich froh über diesen Erfolg, es gab wenige Anzeichen, dass dabei viel schiefgehen konnte. Schliesslich kannte man sie. Sie war Theaterpädagogin und Sozialarbeiterin. Was konnte da schiefgehen. Hier an diesem vergessenen Hügel. Neben dem vergessenen und nicht besonders schönen Wald.

Ich erinnere mich daran, dass sie gesagt hatte: «Die Leute hier wollen ihre Ruhe, sind ganz froh, dass der Nebel ihre Erinnerungen verdeckt. Da stellt ein Theaterstück vielleicht zu viele Fragen, sie wollen ja nicht, dass ihre Kinder plötzlich zu Hause Dinge fragen.»

«Wie ist das bei dir, willst du, dass dich deine Tochter viele Dinge fragt?» Es war blöd, das zu fragen, aber mir war kalt und ich hatte keine Lust irgendwelchen Scheiss zu reden.

«Du hast Recht», sagte sie: «Manchmal möchte ich auch nicht, dass sie mich zu viele Dinge fragt.» Während ich damals den Namen der Tochter vergessen hatte, war Sara nun täglich in den Nachrichten.

Vielleicht war es einfach unwiderstehlich. Mit Schlagzeilen wie: «Die Theaterschlampe hat eine Tochter» wurde es für Catherine schlimmer und schlimmer. «Das Kind der Theaterschlampe» und natürlich: «Die Theaterschlampe, wirklich unersättlich». Es ist schwierig zu sagen, wann ich angefangen hatte, mich schlecht zu fühlen. Wann es mir übel geworden war. Am Ende war es erstaunlich leicht gewesen, am Telefon zu ihr durchzukommen. Meine Sekretärin stellte mich gegen Mittag durch. «Wenn ich etwas tun kann», sagte ich überfordert, da mein Alltag langweilig und gleichzeitig zu betäubend war, um spontan zu reagieren. Termine, Kalender, Daten, Zahlen und Fakten. Eigentlich hatte ich nicht wirklich Raum für den Missbrauch von «minderjährigen Schutzbefohlenen».

Das Rössli kam als Treffpunkt nicht mehr in Frage. Aber ihr Haus war nicht schwer zu finden. Es war dort, wo die Journalisten warteten. Catherine hatte nicht genug Geld, um schnell wegzukommen. So war sie gefangen. Sie machten Fotos, viele Fotos. Ich ging ins Haus hinein. Wir redeten eine Weile. Ich sagte Dinge, wie: «Wenn ich etwas tun kann …»

Ihre Wohnung, ihre Küche war in Ordnung, auch Sara schien ganz OK. Es war gemütlich.

«Du könntest mir glauben.»

«Natürlich.»

«Ich habe es getan, aber es war ein Ausrutscher. Es war ganz in Ordnung.»

«Er ist zu jung.»

«Das ist eine Frage von Monaten. Das spielt manchmal keine Rolle, es war in Ordnung für uns. Es geht niemanden etwas an. Es ist einfach passiert.»

«Aber der Altersunterschied ist nicht so toll. Und verliebt warst du sicher auch nicht.»

«Ein bisschen, aber du liebst deine Frau auch nicht immer.» Sie bemerkte, dies wäre allzu defensiv, sie sagte: «Er war ein guter Schauspieler, er war leidenschaftlich, er war halt einfach da.»

«Das darf man nicht.» Es fühlte sich bescheuert an, dies zu sagen. Das Gespräch wurde jedoch nicht leichter dadurch. Klar, Jawid war wahrscheinlich nach einer langen Flucht, nach endlosen Kämpfen längst ein Mann gewesen. Und offenbar war er auch ein toller Schauspieler. Klar, siebzehn war siebzehn. Er hatte es gewollt. Beide hatten es gewollt. Das musste eigentlich reichen.

Ich hatte Catherine nicht gut gekannt. Verloren in einem moralischen Niemandsland trank ich mit ihr eine Flasche Wein und dann noch eine. Später im Rössli blieb mir nichts anderes, als ein Zimmer zu nehmen. Mein Auto, mein Leben und meine Sorgen kamen mir mittlerweile lächerlich vor. Im Rössli war das Urteil klar: Jeder wusste alles über Catherine. Hey, sie hatte mit dem Gärtner-Gemeinderat geschlafen. Hey, sie hatte eine uneheliche Tochter. Hey, in der Zeitung stand, sie sei unersättlich. Faszinierender Gedanke. Ein angenehmer Grusel: Endlich kennst du jemanden, der ohne jede Veranlassung alles mit dir macht. Jeder war nun bereit, seine Vorlieben zuzugeben: «In den Arsch», «ein bisschen lecken» oder doch lieber «Deep Throat», oder irgendeinen einen anderen Scheiss. Der Nebel über der Provinz hatte sich gelichtet und es war nicht schön.

Meine Frau fluchte mich früh am nächsten Morgen an. Und sie hatte recht: Die Kinder, das Frühstück die abgesagten Termine, die Fotos von unserem Auto. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass es um reale Menschen ging. Dass Catherine und Jawid wirklich existierten, so wie wir und unsere Kinder existierten. «Wir waren ja auch nicht volljährig, als wir Sex hatten», erklärte ich ihr. Sie grinste, war aber kurz weg, weil die Corn Flakes erst gefunden werden mussten. Dann kam sie zurück und sagte: «Scheisse, wir wären im Knast, oder?»

«Ja, das wären wir.»

«Und beim Theater kann es schon einmal mit einen durchgehen?»

Inzwischen war das Gelächter an unserem Küchentisch ziemlich gross. Denn Mami hatte einen Lachanfall, sie prustete: «Natürlich kann es das.»

Ich hatte Catherine nicht gut gekannt. An diesem Morgen als ich versuchte, mein Auto zu holen, hatte ich nochmals geklingelt, versuche immer wieder Catherine anzurufen. Auf allen Linien. Das Lachen von Julia, meiner Frau, im Ohr, dass eben im Theater alles passieren könne. Lange war ich neben meinem Auto gestanden und dann wieder an der Eingangstüre klingeln gegangen. Irgendwann hatte ich keinen Grund mehr Julia oder meine Sekretärin anzurufen. Weiter zu warten. Ich stieg in den Wagen. Bereit, zu nehmen, was kommen würde.

In der Gemeinde, unter dem Nebel. Sie hatten lange gebraucht, bis sie sie gefunden hatten. «Die Polizei steht vor der Türe mit einem Mädchen», sagte Julia.

Ich sagte: «Vergiss es, ich schnarche einfach und ich werde es weiter tun.» Ich drehte mich auf die andere Seite.

Beruhigt, weil ich einfach gut schlafe. «Die Polizei steht vor der Türe und das mache ich nicht alleine», sagte Julia mit dieser Stimme, wie sie nur Schauspielerinnen machen können. Hey, das bin gewöhnt. «Guter Versuch, Schatz, ich geh aufs Sofa.»

Ich nahm die Decke, wenig begeistert und ohne jede Überzeugung, aber manchmal muss man zum Äussersten greifen.

Ich hatte Catherine nicht gut gekannt. In diesem Moment war Catherine schon mehr als 24-Stunden tot. Sie war schon tot gewesen, als ich versuchte zu klingeln, als ich … als ich mit anderen furchtbaren Männern über irgendwelchen Youporn-Dreck geredet hatte und versuchte ein Zimmer im Rössli zu kriegen, weil ich nicht im Auto schlafen wollte. Die Polizisten waren natürlich auch da. Als die kleine Sara aufwachte, war sie mindestens vier bis sechs Stunden alleine mit ihrer Mutter gewesen, die sich da schon lange umgebracht hatte.

Wir versuchen darüber zu reden. Mit Sara. Leider kann ich ihr nur sagen: Ich habe nicht viel über Catherine gewusst. Ich habe Catherine nicht gut gekannt. Sara spielt draussen, irgendwann wird sie rausfinden, dass ihre Mutter starb, weil ich auch nicht da war, als es darauf ankam. Weil Typen lieber darüber reden, wie sie es noch besser besorgt bekommen könnten, als sie es eben besorgt bekommen.

Julia findet das alles nicht so schlimm. Jawid ist weiter unter Druck, seine Frauengeschichten sind international und keine Ausnahme. Er ist achtzehn und schafft es immer wieder. Wir finanzieren unterdessen seine Familie. Und da ist Sara. Sie mag keine Cornflakes, hat Angst vor Julia, vor Lehrerinnen, weil das Trauma sagt, sobald du dich auf Frauen verlässt, stirbt jemand. Ich hatte Catherine nicht gut gekannt. Aber mit Sara komme ich ganz gut klar.

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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