Ein Friedhof lag in der Nähe, eine Seitenstrasse, die Galgenfeldweg hiess. Über allem thronten mächtige Nationalstrassen. Das Gebäude an der Nussbaumstrasse war ein mehr oder weniger modernes Gebäude. Das Bundesamt für Polizei in Bern wollte nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Unwillkürlich zog ich das Jackett enger um mich. Heute würde es nicht mehr besser werden. In einem kahlen Sitzungszimmer, die Frage, ob Kaffee, Tee oder Wasser aus dem Weg, kamen die beiden Typen gleich zur Sache. Steinberger hiess der Grössere. Der auf den ersten Blick Unsympathischere, der Unwichtigere auch, denn er war es, der für Rückfragen zur Verfügung stand und seine Karte abgab, hiess Jaccoud. Sie hätten genauso gut Architekten oder Ingenieure sein können. Waren sie aber nicht. Leider.
«Rebecca Martinez, sagt Ihnen der Name etwas?»
Rebecca Martinez. Eine freischaffende Reporterin. Spezialisiert auf Flüchtlingsgeschichten. Anfangs dreissig und oft einsam in einem Meer von Ungerechtigkeit verloren. Sie war nicht jemand, der einen den Thailand-Urlaub allzu leicht verzieh. Ihre grosse Reportage im Spiegel war umgeschrieben worden und sie war wochenlang angepisst gewesen. Wochenlang hatte sie jeden damit genervt, dass ihre idealistische, doch etwas naive Story abgeändert worden war. Bei gewissen Dingen verstand sie einfach keinen Spass. Fortan verzichtete sie auf den Status als Starreporter und nervte dafür machtlose Lokalredakteure wie mich.
Rebecca Martinez. Menschenhandel. Die Bundespolizei. Eigentlich hatte ich mehr damit gerechnet, dass eines der Jüngelchen irgendeinen Scheiss vom Internet runtergeladen hatte. Dass sie endlich den unheimlichen Archivar im Keller wegen der Pornos drangekriegt hatten.
«Es ist absolut essentiell zu diesem Zeitpunkt, dass sie uns alles sagen, was sie wissen, leider können wir ihnen im Gegenzug nicht viel sagen. Über Rebecca Martinez.»
«Selbstverständlich werden wir Ihnen helfen, da führt kein Weg daran vorbei. Allerdings muss ich Sie fragen, ob ich aus Gründen unserer betrieblichen Integrität einen unserer Hausjuristen beiziehen muss.» Selbstverständlich hatte unser kleines Basler Lokalblatt längst keinen Anwalt mehr. Ausser dem Billigsten.
«Es betrifft nicht sie. Es betrifft Rebecca Martinez. Die Dinge, die sie gemacht hat, die sie vor hat zu tun. Wir können Ihnen so viel verraten, dass sie in Schwierigkeiten steckt. Sie sich mit Leuten eingelassen hat, mit denen sie sich nicht hätte einlassen sollen.»
Ich fasste an meinen Kragen. Jaccoud und Steinberger sahen das als Schuldeingeständnis.
«Jetzt rücken Sie raus mit der Sprache, Mann. Wir wissen, Sie waren mit ihr zusammen und hatten Kontakt mit ihr. Wir brauchen ihre Hilfe. Und die Sache eilt, sonst wären Sie nicht hier.»
Ein libanesisches Restaurant in einer Seitenstrasse. Mittelmässiges Essen. Eine Artikelserie. Ein Mann, dem das Schicksal damit drohte, das mittlere Alter verlassen zu müssen im Nirgendwo anzukommen, eine Frau, die unbedingt aufdecken wollte, dass Schlepperbanden in Schweizer Asylzentren ganze Ringe aufgezogen hatten, um Frauen zu verkaufen. Davon konnte ich ihnen erzählen. Steinberger sah nicht überzeugt aus. Sie gaben mir entsprechend den polizeilich strengen Blick, fraglich, ob ein entschlossener Spion oder Terrorist darunter zusammenbrechen würde, aber ich war ein vom Online-Geschäft niedergestreckter Redakteur, der Frauen und den Journalismus aus den guten alten Zeiten mochte. Also hatte ich mich überreden lassen. Wie sollte ich das Steinberger klarmachen.
«Wir planen viele solcher Artikel, wir bringen sie auch, aber meist kümmert es die Leute nicht. Und wir können uns eigentlich eine recherchierende Journalistin wie Martinez gar nicht leisten.» Ich vergass ihnen zu sagen, dass ich jeden Tag mit jungen Leuten sprach, die mir brisante Artikelserien versprachen, die dann nie geschrieben wurden, entweder, weil sie es, unerfahren wie sie waren, doch nicht gebacken bekamen, oder weil es einfach doch zu aufwändig war.
«Das ist doch unwichtig, Mann. Wir wollen wissen, was sie vorhatte, was wollte sie tun? Hinter wem war sie her?»
«Sie redete davon, dass es eine Verbindung über Italien gebe. Sie meinte viele Frauen aus Mali und Nigeria würden zuerst in Italien zur Prostitution gezwungen. Aber dann kämen sie hierher und es werde noch schlimmer. In den Asylheimen in der Schweiz. Ich musste ihr sagen, dass wir als lokale Player eine solch grosse Geschichte gar nicht finanzieren können.»
«Jetzt reissen Sie sich doch zusammen. Wir brauchen den ganzen Scheiss. Was hat sie geschrieben? Sie werden das doch gelesen haben. Sie muss jemandem auf die Füsse getreten sein. Die hat doch den gleichen Kram jahrelang geschrieben und niemanden hat es gestört. Und nein, es interessiert uns nicht, was sie mit ihr gegessen oder ob sie sie gevögelt haben, wir brauchen die Info, was plötzlich anders geworden ist.»
Sein Kopf sah rot aus.
Mir fiel zunächst einmal das Essen ein. Es war wirklich nicht toll gewesen. Aber wir hatten Kerzen am Tisch und Rebecca Martinez mochte das Essen und war überzeugt, es sei ein tolles Lokal. Mir fiel ihr Verlangen ein, die Besessenheit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Mir gefiel ihre Leidenschaft, das Leuchten in ihren Augen. Ausgerechnet Menschenhandel.
«Sie erzählen uns Geschichten hier. Sie müssen uns schon mehr bringen, die Lage ist ernst, verdammt ernst. Verstehen Sie. Wenn Ihnen etwas an Rebecca Martinez liegt, packen Sie besser aus.»
Die Dinge waren so, wie sie waren. Ich versuchte mich an das Gespräch zu erinnern. Ein paar alte Geschichten. Die Schüsse in Sarajevo. Zusammengepfercht im UN-Transporter hatte ich in die Hose gepisst. Ein paar lokale Skandale. Die Reportage aus dem Flüchtlingsheim. Der Druck der Clicks. Nichts Besonderes. Zu wenig, um eine junge Frau zu begeistern. Und jetzt waren die Bullen auch nicht begeistert. Von Rebecca hatte ich noch keine Artikel bekommen, so dass ich nicht viel sagen konnte. «Sie hat angedeutet, sie würde ihre Papiere verstecken und mit Schleppern selbst illegal einreisen … Ich, ich, also ich sagte ihr, dass sei keine gute Idee.» Das stimmte nicht, die Idee war solche Scheisse, dass ich ihr gestanden hatte, mich in einem gepanzerten UN-Fahrzeug von Soldaten bewacht, selbst bepisst zu haben.
Ich hatte ihr versucht zu erklären, dass es bei diesen Dingen nicht darum ging, dass die Kacke ein bisschen vor sich hindampfte, und man als Journalist wie etwa bei lokalpolitischen Geschichten vielleicht aus sicherer Entfernung mit Scheisse beworfen wurde, sondern dass es in diesem Fall um Verbrechen ging, bei denen die Täter nicht lange fackelten. Steinberger und Jaccoud sahen mich an, wie der verantwortungslose Idiot, der ich gewesen war. «Ich habe sie gewarnt, habe angerufen, immer wieder.» Natürlich war es zu spät gewesen.
«Das ist nicht viel. Wir haben gehofft, sie könnten uns helfen. Der Scheiss hier ist dringend, dringend, verstehen Sie.»
Sie waren zu zweit und sagten alles zwei Mal, so dass ich es sicherlich verstehen würde. «Wenn Ihnen etwas einfällt, rufen Sie uns an.» Jaccoud. «Rufen Sie uns an», Steinberger. Alles klar. Ich würde anrufen.
Eigentlich hätte ich ein Firmenauto nehmen können, aber ich hatte nachdenken wollen. An der Busstation an diesem mitteltrüben Berner Morgen fragte ich mich, was mit Rebecca Martinez geschehen war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, etwas Aussergewöhnliches gesagt zu haben. Vielleicht: «Menschenhandel, Scheisse, lass das die Polizei machen.» Oder: «Das darf einfach nicht sein. Vielleicht können wir kämpfen.» Ich war einfach zu alt, zu abhängig von den Clicks und letztlich war mir klar, eine Ungerechtigkeit würde nur die andere ersetzen. Aber das Leuchten in ihren Augen. Das war schon etwas. Der Bus brauchte lange, es schien klar, dass Rebecca Martinez in der Scheisse steckte. Es schien klar, es war bald nach dem Abend in der libanesischen Kneipe gewesen. Die Fedpol-Typen gaben sich nicht mit Kleinkram ab.
Schliesslich hatte der Kindergarten neben der Busstation Pause. Die Kinder lachten. Sie waren froh, rauszukommen. Und mir fiel ein, dass ich Rebecca Martinez gesagt hatte, sie solle dem Geld folgen, dann könne man die Menschenhändler festnageln. Wenn sie das getan hatte, standen ihre Chancen schlecht. Ich liess mein I-Phone drei Mal fallen und verpasste den Bus, bevor ich es endlich schaffte Jaccoud anzurufen.