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Die Welt von gestern Über Retro und verlogene Nostalgie

Von Gastautorin Esther Grosjean

„Das war scheinheilig von dir!“ Nach einem gemeinsamen Abend mit Freunden rempelte mich mein Partner beim Austrinken der Weinreste an.

Wir hatten vorzügliches Essen genossen. Marinierte Pouletbrüstchen aus Thymian und Szechuan-Pfeffer, auf Ananas serviert, dazu hausgemachtes Brot und aus frischem Marktgemüse zubereitetes Chutney. In unserer Küche hatte sich einige Stunden zuvor eine Freundin als Störköchin zu schaffen gemacht. Ein Geschenk. Während sie in Kochtöpfen rührte, die Taschen leerte und sich ruppiges Gemüse auf der Tischfläche türmte, kümmerte sich der Rest von uns um die Hintergrundmusik und ums Zerschneiden der Zwiebeln, Äpfel und Tomaten. Der Duft verströmte sich in Kürze im kleinen Raum. „Ich kaufe nur auf dem Markt ein, die Sachen halten länger und sind geschmackvoller.“ Ich pflichtete der Freundin bei. „Stimmt, es ist dort auch persönlicher und ich schätze den direkten Kontakt zu den Verkäufern.“ Den argwöhnischen Blick aus der Musikecke ignorierte ich. „Ach wirklich?“
Die heutige Wahlfreiheit macht nicht glücklicher. Bauern-Markt, Reformhaus oder Supermarkt, Billig-Aldi oder Kindheits-Migros? Das Problem liege darin, dass wir wählen müssen — und nicht einfach nur können. Dieses Argument liefern jedenfalls Globalisierungskritiker, die in den zunehmenden Möglichkeiten verschiedenster Lebensbelange eine Überforderung sehen.
Ständig ist man damit beschäftigt, sich entscheiden zu müssen. Für eine Sache und aufgrund der hohen Anzahl an Alternativen gegen zahlreiche andere. Damit schnitzt man sich ein eigenes Profil und wird durch die Art, wie man etwas macht, zum Individuum, und zwar mit eigenem Stil. Man definiert sich nicht nur durch den Autokauf oder die Art des Wohnens, sondern auch durch den Einkauf von Lebensmitteln, also sozusagen durch alles, was man macht. Das hört sich nun als Theorie schon sehr anstrengend an.

Spontan danach gefragt, bevorzuge ich den Weg der Nachhaltigkeit, der Langsamkeit, des Innehaltens. Vor allem in Gruppengesprächen gebe ich mich gerne als Person aus, die der alten Welt mit Wehmut nachschaut, ihr mit kleinen bewussten Handlungen nacheifert und sie verteidigt. In der Urban Gardening Box wachsen bei mir Tomaten, Radieschen und Petersilien, in meinem Portemonnaie steckt eine Karte für die lokale Bibliothek, analoge Fotografie siegt in meinem Weltbild über die digitale, ebenso liebe ich knisternde Zeitungen, die lose verteilt überall zuhause herumliegen. Eine von Hand geführte Agenda ist das Praktischste überhaupt und internetfreie Zeiten sollten auf jeden Fall in den Alltag implementiert werden. Wie schön ist es doch, Postkarten zu erhalten und zu schreiben, und nicht immer nur via Whatsapp-Nachrichten zu grüssen, und CDs lösen fiebrig-sehnsüchtige Erinnerungen aus. Was waren das für Zeiten, als man bei den Alben die Songs nur durch Zahlen zu nennen hatte, um mit melodisch Gleichgeschalteten zu fachsimpeln: „Die 7, herzzerreissend. Der Text von Nummer 2: Wie wahr. Nummer 6: Schöner Rhythmus, aber irritierender Schluss.“ Sage ich meinen Mitmenschen.

Die Wahrheit aber ist: Ich bin gar nicht so. Nostalgie kommt nur auf, wenn man mich ausdrücklich dazu auffordert, über die alte Welt nachzudenken. So wie man eine leichtes Ziehen im Magen verspürt, wenn man sich mal wieder junger Kindheitstage erinnert, in denen die Tage damit ausgefüllt waren, stundenlange im Sand zu buddeln oder mit dem Gokart steile Wege herunter zu krachen. Wie schön das alles doch war!

Mein in Gesellschaften gerne dargelegter Hang zur analogen Wirklichkeit hat eine ganz banale Ursache: Es ist meine subtile Art, über die jungen Schnösel zu triumphieren. Die können da mal nicht mitreden. Selbst wenn die Cyber-Kids nun erwachsen sind, in einer Sache hinken sie mir hinter her: Sie kennen nur diese eine Jetzt-Welt. Ich aber bin Zeitzeugin der prädigitalen, weniger globalisierten Welt und damit Kennerin zweier komplexer Ären. Das gibt mir immerhin das Gefühl, einer interessanten Generation anzugehören.

Horche ich im Alleingang in mich hinein, komme ich zu einem anderen Schluss.
Das Aussterben der kleinen Buchhandlungen ist traurig und bedauerlich, vor allem für die im Beruf tätigen Leute, und die Ausbeutung der eigenen Mitarbeitenden durch Grosskonzerne wie Amazon ist eine unschöne, untragbare Entwicklung. Dennoch muss ich zugeben: Mega-Buchhandlungen habe ich kleineren schon immer vorgezogen. Dort kann man stöbern ohne Ende, nebenbei sogar ungehemmt in ein Muffin beissen, man verpflichtet sich zu nichts und wird selten von einem Mitarbeiter gestalkt. Niemand rückt hinter einem alles wieder zurecht, geradezu so, als ob es darum ginge, sämtliche Besucher-Spuren zu beseitigen.
Die Digitalisierung hat Bildung für alle zugänglich gemacht. Wer über einen Rechner und Internetanschluss verfügt, kann Bücher zu jeder Zeit und fast überallhin bestellen, das Allgemeinwissen kann jederzeit aufgestockt werden. Enzyklopädien gehören zu den verzichtbarsten Gegenständen in einer Wohnung und das nicht nur, wenn Platzmangel herrscht. Was man braucht, kann vom Netz abgezapft werden, man kann streamen, herunterladen oder bestellen, kurz, alles Mögliche aus diesem unaufdringlichen Rechteck beziehen. Das verleiht dem eigenen Dasein eine zuvor ungeahnte Kraft und Lebendigkeit, verkabelt ist man immer irgendwo und irgendwie dabei.

Man stelle sich nun aber eine gemütliche Runde von digital Immigrants vor, die Kuchen essend in geteilter Nostalgie zuerst ganz allgemein über alte Zeiten, dann auf Filme zu sprechen kommt: Le grand bleu, Reality Bites, Pulp Fiction, Trainspotting, ja, was waren das für Filme. Dann wirft jemand ein: „Schon traurig, dass es keine Videotheken mehr gibt“, das Gegenüber nickt bestätigend, auf manche Perle sei man ganz zufällig gestossen. Ja damals. Die Erinnerung malt meistens mit goldenem Pinsel. War es nicht auch so, dass das Angepeilte meistens bereits ausgeliehen war, die Warteschlange an Regen- und daher exzellenten Filmtagen natürlich lange und die Klappentexte bei der beliebigen Suche wenig Aufschluss über die Filmqualität gaben? Und hatte man sich an Peek-Tagen entschlossen, bei der Filmwahl Abstriche im Geschmack zu machen, kam noch die letzte Bastion. An der Theke standen meist coole Menschen, vor denen man sich schliesslich mit der eigenen Film-Wahl outen musste. Das war vor allem dann nicht so prickelnd, wenn man mit einem Stapel Romantik-Komödien aufkreuzte, zwei davon mit Julia Roberts. Das passte dann nicht ins Selbstbild oder zumindest nicht in dasjenige, das man gegen aussen tragen wollte.
Seit der Digitalisierung kann man so vieles im eigenen Kämmerchen und aus diesem heraus tun. Der Bildschirm ist die eigene Welt, in die nur diejenigen hineingucken können, die gerade hinter oder neben einem sitzen. Ich bestelle mir Filme, Bücher, Kaffee-Kapseln und Kleidung oder buche einen Schnellzug nach Wien, ohne mich dazu äussern zu müssen. Anonymität hat etwas herrlich Befreiendes!
Und wenn wir gerade dabei sind: Das Retro, ja den Retro-Trend, gibt es nicht. Selbst wenn behauptet wird, dass TV-Schauen wieder in Mode sei. Wer einen Plattenspieler zuhause hat, hört bestimmt ebenso viel Musik über das Internet. Auch der bei Besuchen stets gerne präsentierte Beamer für den Sonntagskrimi – und wirklich nur für den! — ist meistens nur ein Bluff. Dazwischen werden in grosser Wahrscheinlichkeit Filme aus dem Netz gezapft und massenweise übers Laptop konsumiert. Und zerfledderte Kochbücher findet man wohl nur deshalb in modernen Haushalten vor, weil Flüssigkeiten und andere Ingredienzien sich schlecht mit dem Getriebe eines Ipads vertragen.

Wer aber hält sich schon länger als zwei Stunden vom Smartphone fern, ja würde mal ganz ohne in die Ferien fahren? Wer liest mal wieder in aller Eintracht Krieg und Frieden, weil die Winterabende so lang und dunkel sind? Wer schreibt noch von Hand Briefe? Wer lässt sich von einer Landkarte im Handschuhfach zum Ferienort navigieren und fragt sich bei Städteausflügen durch die Menge bis zu den besten Restaurants vor, ohne sich an Tripadvisor und sonstigen Booking.com-Seiten zu orientieren? Ja, wer bezieht die Tagesaktualitäten fast ausschliesslich von Print-Zeitungen? Macht es dann aber doch mal jemand, so ist das in der Regel reine Inszenierung. Dieser eine von Hand verfasste Brief anlässlich einer besonderen Situation oder die kuscheligen Lesestunden mit Buch am Kamin machen unter X Abenden in Gesellschaft des Internets keinen Unterschied. Weder die beim Bauer geholten frischen Eier, das selbstgebackene Brot noch der Schnittlauch vom Balkon. Diese Handlungen sind bestenfalls noch ein Zitat von früher, ein Statement für die alte Welt sind sie nicht. Medien- und globalisierungskritisch zu sein, bedeutet bei Licht besehen ja meist nur, eine besonders raffinierte Form der Selbstdistinktion.
Die Textfülle nimmt in immer mehr Zeitungen ab, Nachrichten, und seien sie noch so komplex, werden in möglichst kleinen Happen dargeboten. Informationen werden zum schnellen Verzehr geliefert, ein bisschen so wie das vorverpackte Essen bei Take away Stellen, die vor lauter Konservierungsstoffen alles tilgen, was an Geschmack erinnert. Ja, bei Zeitungen und Büchern wünsche ich mir, dass es weiterhin Leute gibt, die als Äquivalenz zum Essen aus Bio-Markt-Gemüse an der alten Welt festhalten – oder jedenfalls weiterhin so schreiben. Solche, die die Sprache pflegen sowie andere frische Zutaten und die dafür sorgen, dass es in Zukunft nicht nur Kochbücher in den virtuellen Bücherregalen geben wird.

EstherGrosjean

Esther Grosjean arbeitet als freie Journalistin und hat in der ZEIT, in der Annabelle und dem Globetrotter Texte publiziert. 

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Autor: Gastautor

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