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Himmel aus Samt, Mond aus Gips

Wolken über der Hacienda der Träume. Aber kein Himmel. Nur blauer Samt. Der Mond ist heute aus Gips gemacht. Genauso wie die Gefühle. Und am Meer steht dieses Traumhaus. Da gehören Sirenengesänge natürlich mit zum Gesamtpaket. Komplett mit pitch correction und einem elektronischen Beat im Hintergrund.

So singen sie gerade „A Song for Europe“ von Roxy Music. Ich kann die Sirenen von meiner Veranda aus sehen. Wie sie dekorativ auf ihrem Felsen sitzen. Ihre Silhouetten sind, aus der Ferne betrachtet, enorm erotisierend.

Wenn ich die drei Ladies der See allerdings durch mein Fernglas beobachte – und das Ding auf maximale  Schärfe stelle –, kann ich rund um ihre massiven Brüste Operationsnarben erkennen.

Das turnt mich nicht unbedingt an: Poseidon macht jetzt also auch schon auf plastische Chirurgie, denke ich.

Während die Dame spricht, die heute bei mir zu Besuch weilt. Endlose Tiraden.

Haremstanz

Ich war einst in genau diese Dame verliebt gewesen. Damals war sie jedoch mit Melchior zusammen. Danach hätte ich immer noch ja gesagt. Aber da war sie halt bereits mit Iwein zusammen. Heute trage ich ihretwegen lediglich noch eine Narbe im Herzen, die manchmal schmerzt.

Vor allem, wenn es schneit.

Aber seit ich mir – in einer sündhaft teuren Privatklinik – die Hälfte meiner Zirbeldrüse habe entfernen lassen, es war eine aufwendige und ausserordentlich blutige Operation, spüre ich ganz generell nicht mehr viel. Ein bisschen Nostalgie ist geblieben. Sowie ein Hauch von Voyeurismus.

Deshalb haben wir folgendes abgemacht: Die Dame quatscht mich voll.

Und tanzt für mich gleichzeitig jenen Haremstanz, den Salome damals in der Bibel – nach der Enthauptung des Johannes der Täufer – für ihren Vater, König Herodes, gegeben hat.

Und wenn dann alle Schleier gefallen sind, macht sie halt mit dem Marshmallow-Tanz weiter.

New Orleans-Modus

Der elektronische Beat unter den Sirenenstimmen hat wurde auf einen polyrhythmischen New-Orleans-Modus umgeschaltet, der eindeutig auf Snooks Eaglin’s „Baby, you can get your gun“ basiert, was sich zum Haremstanz meiner Dame ja ganz gut macht.

Und dazu singen die Ladies der See seltsamerweise jenen Text von den Puppini Sisters, der mich einst verfolgt hat, weil er auf einem Kathmandu-Flug der Quatar Airways im Programm des Unterhaltungssystems präsent gewesen war: „I tried new positions/I learned his friends names/I made myself sit through football games…“

Meine Dame erzählt und erzählt also (und tanzt und tanzt dazu) die seltsame Geschichte ihres Liebeslebens. Einen wahren Epos, liebe Gemeinde.

Die Grenzwächter des Anstands

Ihr intimes, ihr sexuelles Ich liebe ja durchaus die Unterwerfung, das Devote, bis zu einem gewissen Grad, berichtet sie. Doch nicht so grenzenlos, wie Melchior seine Beherrschungsexzesse mit ihr getrieben habe.

Für sie müsse es immer mit gekonnter, angenehmer Verführung beginnen, auf der Schwingungsebene spielerischer erotischer Feldversuche, die sich mit der Zeit dann gerne in eine schmutzigere Tonlage hinunter schrauben dürfe.

Bis die imaginären Grenzwächter des Anstands, von dieser räudigen tiefen Melodie eingelullt, ihre Barrieren schliesslich öffnen würden.

Im folgenden Rausch geniesse sie dann gerne die Phantasie, beispielsweise das Lustspielzeug eines –  in seiner Verkommenheit einfallsreichen, aber auf eine raue Art attraktiven – Piratenfürsten zu sein, der über eine tüchtige Ladung dreckiger sexueller Energie verfüge, die ihn immer wieder auf neue ausgefallene Ideen bringe, welche er ihr zunächst genüsslich schildere, in einer Sprache, die vor Obszönitäten nur so triefe, um sie dann sogleich in die Realität umzusetzen.

Emotional rund

Sie fühle sich dabei gerne als entführtes, feines Mädchen aus gutem Hause, das sich diesen schmutzigen Dingen – schamhaft, aber insgeheim lüstern – ergebe, ein feines Mädchen, das halt alles genauso erfüllen müsse, so wie es ihm der unheimliche Mann auftrage.

Und wenn die Sache mal ein bisschen weh täte, sei dies dann gleich noch die – auch irgendwie befriedigende – Strafe, welche so ein feine Mädchen, für den heimlichen Genuss solch schmutziger Vorgänge, verdient habe.

Eine emotional runde Sache also. Am Ende der Sexgeschichte wolle sie von ihrem Mann aber beschützend in die Arme genommen, getröstet, gestreichelt werden.

Sodann möchte sie, als resolute, gescheite, moderne Frau, in einem – durch das sadomasochistische Ritual emotional gereinigten Alltag – wieder willkommen geheissen werden.

Und dies bitte respektvoll, nach erfolgtem kontrollierbaren Tauchgang in die Tiefen des Ozeans der Lüsternheit. Inzwischen ist der Schleiertanz meiner Dame beendet – kein Schleier mehr da – der Marshmallow-Tanz beginnt also.

Und die Story geht einfach weiter.

Die Sirenen trällern jetzt übrigens „Heaven“ von den Talking Heads.

Teufelsgeneral ihrer Sexualität

Mit Melchior habe sich das Abtauchen zu Anfang rauschhaft und wundervoll angefühlt. Später sei jedoch alles irgendwie entglitten. Sie habe sich in absurd, ja grotesk anmutenden Bereichen der sexuellen Realität wieder gefunden.

In einem Theater der Grausamkeiten sei sie exzessiven Unterwerfungsepisoden ausgesetzt gewesen, die sie mitgemacht habe, wie hypnotisiert.

Melchior sei zum Teufelsgeneral ihrer Sexualität mutiert.

Deshalb habe sie ihre innere Mitte verloren. Ihr Realitätssinn sei darob ins Wanken geraten – und nur das Saufen und die Einnahme vieler, allzu vieler Drogen hätten ihr ein Aushalten dieser Situationshölle ermöglicht.

Bis sie mit Melchior habe brechen musste, was sehr schwer gewesen sei.

Der rote Alarmknopf

Mit Iwein, seinem Nachfolger, sei sie dann entschieden weniger tief in den Brunnen der Unterwerfung hinabgetaucht. Der Gute sei halt nur ein kleines bisschen dominant. Die Teddy-Bär-Ausgabe eines gefährlichen Motherfuckers gewissermassen, Sir Stephen im Mini-Me-Format.

Ihr Gesamtbefinden sei mit dieser gemässigten Variante um einiges angenehmer geworden, so empfinde sie jedenfalls. Meistens.

Nur manchmal würde jener rote Alarmknopf tief in der perversen Zone ihres Inneren blinken, der dann auch ganz dringend gedrückt werden wolle.

Irgendeine starke Macht aus unauslotbaren Seelentiefen wolle sie immer wieder in jene Hochrisikozone ihrer Libido treiben, die sie doch verlassen habe, indem sie Melchior aus ihrem Leben verbannte.

Oder etwa nicht?

Doch habe sie den drängenden Impuls, auf jenen blinkenden Alarmknopf zu drücken – und damit die entsprechenden sexuellen Konsequenzen auszulösen, so wie ein mächtiger Präsident per Knopfdruck eine nukleare Katastrophe auslösen könne -, nun fünf Jahre lang, jeweils mit Hilfe schmutziger Fantasien und Tagträumereien, erfolgreich wieder zum Erlöschen bringen können.

Kopf ab!

Ich muss – während den epischen Erzählungen der Dame – eingeschlafen sein.

Wie ich am Morgen aufwache, sind die Sirenen verstummt. Ich öffne meine Augen und sehe meinen Körper kopflos in einem jener Pfauenledersessel sitzen, welche die Veranda der Traum-Hacienda zu einem gemütlichen Ort machen.

Ich schliesse daraus – sowie aus dem Blickwinkel, aus dem sich mir diese Szene offenbart -, dass mich jemand im Schlaf enthauptet haben muss.

Mein Kopf liegt nämlich auf dem Verandaboden, mein Körper hängt im Sessel.

Eine ganz neue Situation. Ich werde mich mit der Zeit daran gewöhnen. Mit der Zunge fahre ich nun gierig über den Verandaboden, erwische einen fetten Marshmallow, transportiere ihn zu meinem Mund und klemme ihn zwischen die Zähne.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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