Los geht’s! Und… Flush! Yeah! Pluderrote Gesichter. Her mit dem BH! Full House! Verkrampfte Hände, gesenkte Blicke. Und jetzt noch der Slip!
Nein, keine Sorge! Den guten alten Strip-Poker will ich nicht wiederbeleben. Genauso wenig die erotischen Kartenspiele der 60er-Jahre, die erst nach drei Martinis und reichlich Hawaii-Toast pochenden Herzens auf den Tisch gelegt wurden.
So „gschamig“ sind wir dann doch nicht mehr! Prüderie und Spießigkeit flammen zwar regelmäßig wieder auf, meist handelt es sich aber – Dieu merci! – um ein Strohfeuer. Scham kennen wir inzwischen eher als Kommunikationsstrategie von Bankern und Politikern oder in der Neuprägung des „Fremdschämens“. Die Kombi aus Sex und Scham kommt uns inzwischen jedoch reichlich antiquiert vor.
Scham ist schließlich ein Begriff, den wir mit schüchternen Klosterschülerinnen oder prüden englischen Damen („Shocking!“) assoziieren, Spezies, die beide wenig attraktiv und im Aussterben begriffen sind. Weder wollen wir züchtig vor dem Herrn knien noch mit degoutantem Blick der ungehorsamen Zofe den Po versohlen. Oder vielleicht doch?
Wer auch nur die geringste Vorliebe für Kink und BDSM hegt, fühlt sich von der Scham jedenfalls magisch angezogen. Sie ist dem Spiel mit Macht und Ohnmacht, Blöße und Bloßstellung inhärent. Sie ist unsere Grenze, deren Überschreitung uns zur Räson bringt oder quälenden Genuss bescheren kann. Höchste Zeit also, einen Begriff wiederzubeleben, der im Laufe der sexuellen Befreiung und der Sprengung sozialer Normen verschüttgegangen ist. Keinesfalls soll jedoch einem schnöden Konservatismus oder gar Retro-Scham das Wort geredet werden. Scham soll vielmehr ihrer Beschränkungen entledigt und als Stimulus erkannt werden. Dazu muss man freilich wissen, was ihre Wesensbestandteile sind.
Paradise lost
Das ganze Malheur mit der Scham begann mit Eva, als sie dem sich in sorgloser Selbstzufriedenheit suhlenden Adam den berühmten Apfel anbot. Im Genuss der Erkenntnis schämten sich beide plötzlich ihrer animalischen Gelüste und bedeckten Schwanz und Muschi mit den famosen Feigenblättern. Soweit die biblische Schamgenese! Selbst wenn es sich historisch etwas anders verhalten haben sollte, wird uns aus dieser Geschichte klar, dass Scham in erster Linie eine Genitalscham ist und in zweiter Instanz an Religion gebunden ist.
Um eine biologische Grundkonstante handelt es sich nämlich keineswegs. Wer jemals brünstige Paviane beim Defilee ihrer prachtvollen roten Ärsche oder Schimpansen im Zoo beim Pinkeln beobachtet hat, der verwirft jeden Gedanken an einen plötzlichen evolutionären Sprung namens Scham. Das Schamgefühl hat im paradiesischen Urzustand nichts zu suchen. Reine Triebhaftigkeit, losgelöst von kulturellen Barrieren, kennt keine Scham, denn sie sieht sich nur selbst und nicht sich selbst im anderen. Konstitutiv der Scham ist jedoch die Spiegelung im anderen Der andere aber findet nackte Pussys im Supermarkt abstoßend und unangemessen, und zwar, weil er es so gelernt hat, nicht jedoch weil Gorillas lieber Agent Provocateur-Slips tragen.
Dass Scham schließlich eine gleichsam göttliche Tugend ist, zeigte uns bereits Artemis, als sie Aktaeon für seinen Voyeurismus knallhart bestrafte. Dass er seinen Sehgelüsten frönte, kam ihm nämlich teuer zu stehen. Die Göttin der Keuschheit, schamerfüllt, verwandelte ihn in einen Hirsch, der von seinen eigenen Kumpanen gejagt und erlegt wird. Drastische Strafen für Spanner in der Welt der Götter!
Das Gespenst der Freiheit
Der Rückzug in den Atheismus und die Entstaubung der Talare befreien uns aber ebenso wenig von der Scham wie der unverbrüchliche Glaube an die Freiheit. Dass es sich bei der Idee der grenzenlosen Freiheit um eine Chimäre handelt, dürfte uns allen wohl klar sein. Schon als Kinder werden wir gerügt, wenn wir „kein Blatt vor den Mund nehmen“. Frühzeit lernen wir, die Dinge nicht beim Namen zu nennen. Pipimänner und Mumus überdauern nicht selten den Weg ins Erwachsenenleben. Aus kindlicher Anpassung wird schamhaftes Verhalten und nicht selten Prüderie. Dennoch verweigern wir uns allzu gerne der Anerkennung der Fakten. Utopien und utopische Gesellschaftsformen sprießen gerade und immer wieder im Bereich der Sexualität und damit auch der Scham. Nudisten-Camps im Osten, Dr. Spitzvogels Handhabungs-Therapeutik in T.C. Boyles „Road to Wellville“ und omnipräsente Banalpornographie. Gegenentwürfe zu rigider Sexualmoral und kollektiver Triebunterdrückung gibt es en masse. Sie mögen ihren Reiz haben, doch reiben sie sich selten direkt an herrschenden Normen und hebeln deshalb noch lange nicht den Wirkungsmechanismus der Scham aus.
Luis Bunuel thematisierte in seinen Filmen häufig die Scham. Aus Scham über die eigenen masochistisch-devoten Bedürfnisse verwandelt sich Sévérine in „Belle de Jour“. Im „Gespenst der Freiheit“ lässt er munter auf der Toilette smalltalken, während sich die Gesellschaft zum Essen diskret hinter verschlossene Türen zurückzieht. Das sind zwar sexuelle Befreiungsschläge und amüsante Szenarien. Parallelwelten und Umkehrung der Verhältnisse zeigen uns aber nicht, wie wir die Scham für unsere Begierden zielführend einsetzen können. Entziehen können wir uns der Scham nicht. Daran hindern uns Erziehung und Gesellschaft. Wir können sie aber einsetzen im Spiel unserer Lüste: Alles auf eine Karte oder schön behutsam ein Jeton nach dem anderen!
Scham als Spiel: Gaming statt Blaming!
Inspiration für den lustbringenden Umgang mit Scham finden wir in Linguistik und Kunstgeschichte, so absurd das auch klingen mag. Ludwig Wittgensteins Begriff des Sprachspiels vermag auf einen Streich die Hauptprobleme zu lösen, die wir mit dem Begriff der Scham haben: 1) Sprachliche Äußerungen haben nur einen Sinn, wenn sie eine bestimmte Funktion innerhalb einer Lebensform haben. 2) Sprachspiele sind grundsätzlich offen und können erweitert werden. Das heißt: Wenn wir die Scham als Sprachspiel begreifen und ihr einen ganz bestimmten Sinn in unserem Leben zuerkennen, können wir mit ihr jonglieren und sie zum Lustgewinn einsetzen. Natürlich gibt’s auch hier kein Spiel ohne Grenzen, aber Grenzverschiebungen und Eroberungen fremden Terrains sind durchaus erlaubt. No risk, no fun!
Schauen wir uns Artemis doch einmal genauer an: Schämt sich Artemis tatsächlich auf Brueghels Gemälde oder kokettiert sie nur mit ihrer Scham? Spielt sie die Prüde, weil es ihr Spaß macht, das Register der Unschuld zu ziehen? Verstärkt sie ihre Schamhaftigkeit, um ihre Wirkung als Göttin der Keuschheit auf Aktaeon zu potenzieren? Artemis und Aktaeon ist ein spannendes Motiv, weil es Scham nicht als natürliches Geschehnis oder bloße Konvention darstellt, sondern als Spieleinsatz mit offenem Ausgang. Artemis zeigt uns einen Weg aus der Konfrontation von Begierde und normenkonformem Verhalten. Spiel mit mir, flüstert sie. Es ist das reizvolle Spiel von Dominanz und Unterwerfung. Aktaeon wagt sich zu nah an die Herrscherin heran und muss dafür bitter büßen. Opfer seiner animalischen Gelüste wird er degradiert, auf sein tierisches Wesen beschränkt und eliminiert. Artemis übt ihre Macht gegenüber dem rebellischen Heros aus. Ma Domina mia!
Unser Schwarz-Weiß-Denken sollten wir tatsächlich ad acta legen, wenn wir unser Spiel-und Lustspektrum erweitern wollen. Es ist schließlich betrüblich, wie verkümmert unser Spieltrieb, unsere Lust an Finessen, Flirt und Sprachspielchen ist im Vergleich zu anderen Kulturen. Die Franzosen natürlich an vorderster Front: „Auch die Scham hat Koketterie“ wusste bereits Balzac. Auch das Erröten lässt sich erlernen, zumindest aber kann man die Erkenntnis gewinnen, dass der zweifelnde Blick auf sich selbst durchaus Erregungspotenzial besitzt.
Selbst prüde Zickereien, der ostentative Ausdruck des eigenen Ekels, haben ihren Reiz. Wenn die versnobte Bourgeoise auf dem Klavierhocker übers Knie gelegt wird, vergnügen sich Madame und Monsieur. Dass Rollenspiele, das Spiel mit Scham und Zucht, bald auch in der Mitte der Gesellschaft ankommen werden, zeigt nicht zuletzt Madonna. Auf ihrer Rebel Heart-Tour trägt sie eine transparente Nonnentracht mit allerlei Einblicks-und Zugriffsmöglichkeiten. Bei diesem Anblick kommen dann doch eher Gedanken an Zappas „Catholics Girls“ und ihre ersten Blaserfahrungen auf als an Kernseife und rotwangige Novizinnen.
Auch bei Public Pleasure-Vergnügungen kann sich die Scham als köstliches Stimulans erweisen. Die Gratwanderung zwischen drohender öffentlicher Beschämung und Auslebung exhibitionistischer Bedürfnisse kitzelt unseren Hypothalamus genauso wie die Wiederentdeckung des züchtigen Schulmädchens und der überaus empathischen Krankenschwester. Der Reiz besteht im gekonnten Spiel mit Entblößung und Verhüllung.
Und auch hier war eine griechische Göttin Vorreiterin: „In dem Gürtel bewahrt Aphrodite der Reize Geheimnis; was ihr den Zauber verleiht, ist, was sie bindet: die Scham.“ (Friedrich Schiller)
Also: Gaming statt Blaming! La vie est un jeu!
Foto: Tan Kadam