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Ohrenbetäubende Stille

Der tiefe Wald. Der tiefe Schnee. Und die letzte Aussenstelle der Zivilisation liegt neun Stunden Fussmarsch hinter mir. Immer steil den Berg hinan. Hier draussen wohnt niemand.

Mein Ziel, mein Blockhaus steht ganz und gar einsam auf einem Felsvorsprung: Wenn ich vom Balkon aus in die Tiefe schaue, gähnt mir ein Abgrund entgegen. Über 1800 Meter freie Bahn nach unten. Direktlinie.

Ich höre meinen eigenen Atem. Meine Schritte in der absoluten Stille, die mich umgibt. In dieser Waldeinsamkeit, dieser Bergisolation. Langsam spüre ich das Gewicht meines dicken Rucksacks, der immerhin Proviant für 20 Tage enthält, schön platzsparend eingepackt. Packen ist eine Disziplin, die ich beherrsche. Bin ich doch ein Wanderer, ein Reisender auf den Pfaden und Strassen dieses mühseligen Lebens.

Das dunkle Grün der Fichten hebt sich ab von einer weissen Leinwand aus Schnee, der Grundlage dieses Winterbilds. Darüber jene undurchdringliche graue Decke. Der Himmel.

Doch ich schaue nicht oft nach oben. Ich muss den verschneiten, vereisten Weg unter meinen Schuhen im Auge behalten. Wenn ich hier – in dieser tiefen Einsamkeit – stürze, mir ein Bein, einen Arm breche, kann ich keine Hilfe erwarten. Das Mobiltelefon ist noch nicht erfunden. Passantinnen, Passanten gibt es keine. Ich würde liegen bleiben, in der Kälte verenden; wie ein unglückseliges Tier.

Ach. Wir sind doch auch bloss Tiere, wir Menschen, sagt Es in meinem Kopf.

Besonders böse Tiere halt. Mit Kleidern. Mordlustig. Hungrig. Geil. Nun stapfe ich hinan, hinauf, jenem zweistöckigen Blockhaus inmitten der Einsamkeit entgegen, das ich von meinem Grossonkel geerbt habe, der Bert Schaub hiess. Sein Grossonkel hatte es einst erbaut, er hiess Jean Merz.

Nur noch zwei Wegbiegungen zu bewältigen. Dann werde ich mein Ziel, mein Blockhaus erreichen.

Wenn ich im Winter hierher komme, muss ich die Eingangstür immer ausgraben. Das dauert gut und gerne ein halbe Stunde. Dafür werde ich diesmal einen praktischen Klappspaten verwenden, den ich auf meinen Rucksack gebunden habe, vor einigen Tagen, in jener verwunschenen Stadt, die meine letzte Bleibe war. Die letzte Bleibe vor der Bergeinsamkeit.

Nun sehe ich das Dach meines Blockhauses, Geborgenheit versprechend, einige hundert Meter vor mir. Ich beschleunige meinen Schritt. Hoppla, jetzt wäre ich doch beinahe ausgerutscht. Das freche Waldkätzchen ist auch schon da. Wie ich um mein Gleichgewicht ringe, lacht es mich aus. Ich rufe „Arschloch“, forme geschwind einen Schneeball und schmeisse diesen nach dem fiesen kleinen Ding. Ich treffe nicht, denn das Waldkätzchen taucht blitzschnell in den Schleichnebel ab, der nun vom Boden her aufzusteigen beginnt.

Weil es halt nicht mehr gar so lange dauert, bis die Sonne untergeht.

Angekommen. So binde ich den Klappspaten vom Rucksack los. Ich beginne nun damit, die Türe freizulegen. Dabei denke ich – ohne dies zu wollen – unvermittelt an jenes Glitzern in Deinen Augen, das da plötzlich auftauchte, als ich tief in Deinem Mund gekommen bin, kurz vor meinem Abschied. Lange hatte ich Dich darauf warten, ausserordentlich lange hatte ich Deine Zunge arbeiten lassen. Etwas zu lange wohl. Für Deinen Geschmack. Trotzdem war ich ein bisschen stolz. Auf mein Stehvermögen, meine Ausdauer. Möge mir die grosse Göttin meinen Übermut verzeihen!

Die Tür ist frei, der Zugang zum zweistöckigen Blockhaus, das da am Abgrund steht, geschaffen.

Ich trete ein. Im Erdgeschoss hat es keine Fenster. Hier wohnen die Werkzeuge, die Schnapsflaschen, die Schlitten, Felle und Fallen. Ich schliesse die Tür hinter mir, verriegle sie sorgsam. Nun öffne ich die zweite Tür, mit einem zweiten Schlüssel, jene zur steilen Treppe nämlich, welche in den ersten Stock hinaufführt. Das Licht meiner Taschenlampe weist mir den Weg, denn hier oben gibt es keinen Strom.

Nur Feuerschein und Kerzenlicht.

Alles noch da. Küche. Sofa. Feuerstelle. Büchergestell. Vor 16 Monaten habe ich das Haus verlassen. Seither war keiner mehr vor Ort. Ich schiebe starke Eisenriegel nach links, nach rechts, öffne so die schweren Fensterläden, begebe mich alsdann in den zweiten Stock hinauf und tue dort dasselbe. Nun trete ich auf den Balkon hinaus.

Ich will in den Abgrund hinunterschauen, der unmittelbar an die Hauswand anschliesst. Damit liegt dieser Balkon eben direkt über dem Abgrund. Als dünner Bretterboden über dem Bodenlosen.

Ja. Ich will hinunter starren. Im trüben Licht eines frühen Abends.

Da liegt ja etwas auf dem Balkon. Eigenartig. In der Tat. Es handelt sich um einen toten Raben. Einen gar kapitalen Vertreter seiner Gattung.

Da stimmt doch etwas nicht. Der Vogel wurde auf den Bretterboden genagelt. Mit langen, etwas grob gegossenen Silbernägeln. Die Flügel weit gespreizt, die Krallen übereinander gelegt. In der Position des Gekreuzigten. Tote Augen starren ins Nichts. Eine Medaille liegt auf dem schwarzen Bauch des ermordeten Tiers. Sie zeigt das Siegel des Dämonenfürsten Andromalius, einer düsteren okkulten Gestalt aus der Goetia, mit unzähligen Gesichtern, die eine dicke fette Schlange auf ihren Schultern zu tragen pflegt.

Und in der Brust des Raben steckt ein kleiner Speer aus Bronze.

Nun fällt mir auf, dass der Kopf des Tiers exakt nach Osten ausgerichtet ist, die Flügel nach Norden und Süden, die Krallen nach Westen…

Moment mal. Der Vogel muss erst vor wenigen Stunden getötet worden sein. Das Blut ist recht frisch, der Kadaver sogar noch ein bisschen warm. Das ganze Arrangement wurde sorgsam angerichtet.

Aber von wem? Ich bin ja der einzige lebende Mensch, der einen Schlüssel zu diesem Haus besitzt, dem einzigen Haus weit und breit. Die Türen, die Fensterläden waren fest verschlossen. Und kein Mensch kann auf diesen Balkon klettern, der doch unmittelbar, der doch überhängend über einem Abgrund schwebt…

Ein eiskalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Obwohl ich ja bereits friere.

Ich habe mich immer wohl gefühlt. Hier oben in der Waldeinsamkeit. Umgeben von nichts und niemandem. Nun scheint aber trotzdem jemand hier zu sein. Oder etwas. Und ich fühle mich überhaupt nicht mehr wohl…

Schnell trete ich in die Schlafstube im zweiten Stock zurück. Herrgott, was habe ich hier drinnen schon Unzucht getrieben. Per vas nefandum auf dem Seehundfell. Sowie alles nur Denkbare.

Mit Damen, die ich extra zu diesem Behufe den Berg hinangeführt habe, einige durfte ich sogar regelrecht hinaufschleppen.

Seltsam, dass ich ausgerechnet jetzt an die fleischlichen Ausschweifungen der Vergangenheit denken muss, ausgerechnet jetzt, wo mich eine würgende Angst packt, wie ich schon lange keine mehr empfunden habe…

Ich schliesse hastig die Balkontüre, verriegle sie. Verriegle zudem alle Fensterläden. Gehe in die Küche hinunter. Bald wird es dunkel sein. Hurtig schütte ich mir einen Schluck Schnaps in die Kehle, entzünde ein Feuer im Kamin.

Draussen kommt plötzlich ein Sturmwind auf, der durch die Wälder heult. Und dessen Spitzen scharf in die Wände des Blockhauses stechen. Was soll der tote Rabe auf dem Balkon bedeuten? Ein Ritual? Eine Warnung? Eine Drohung? Und wer zum Teufel hat das bloss gemacht? Wer?

Zum Teufel?

Nun schliesse ich alle Türen und Fenster des Blockhauses. Lege die eisernen Riegel vor. Setze mich auf den Sessel, starre auf die Eingangstüre zur Küche, die ich ebenfalls fest von innen verriegelt habe.

Die Nacht ist da…

In meinen Schoss liegt die grosse Axt. Auf dem Tischchen neben mir stehen die Schnapsflasche sowie meine Taschenlampe. Meine Ohren sind gespitzt, meine Sinne angespannt. Höre ich da etwas ums Haus schleichen? Oder ist es nur der Wind?

Wer kreuzigt einen Raben auf meinem Balkon? Weshalb? Und wo ist der Täter jetzt? Was hat er vor? Was kommt nun? Was?

Ich lausche und starre und streichle den Schaft meiner Axt. Es wird eine lange schlaflose Nacht. Hier drinnen. Werde ich heil ankommen? An den Gestaden des Morgens? Und was dann?

Wird es einen Kampf geben? Werde ich sterben müssen? Oder töten? Meine Nerven flattern…

Und draussen erstrecken sich hunderte von Kilometern. Dunkelheit. Wald. Winter. Ohrenbetäubende Stille.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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