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Notfall? Notausgang nehmen!

Vorhin trug ich zwei DVD’s zum Einwurf der Bibliothek, ich hätte die Filme noch länger hier liegen lassen können, doch ich brauchte Bewegung. Weil es mir peinlich war, einen angekündigten Besuch wieder abgesagt zu haben. Wenn ich mich niedergeschlagen fühle, ziehe ich die Sneakers an, montiere wie heute den Regenmantel und auf geht’s. Der Grund, dass ich mich so fühlte, ist schnell erklärt. Ich hatte etwas besichtigen wollen, aus einer spontanen Bewegung heraus, weil ich dachte, ach jetzt gehst du doch mal hin, bewahrst natürlich einen klaren Kopf, triffst eine sehr kluge Entscheidung. Bleibst die ganze Zeit bis zu dieser tooootal gelassen. Sagst dann zu oder ab. Je nach Lage der Dinge. Aber so/das bin nicht ich. Also sagte ich mit einer Notlüge, die jedoch nicht mal so falsch ist, ab. Ich könnte nicht kommen, müsste für längere Zeit einen Infekt ausheilen, schrieb ich. Das stimmt sogar, denn diesen Infekt habe ich mir wohl zugezogen, während ich im Hinterkopf noch dachte: Das da solltest du lieber nicht essen. Und schon wars runter.

Na ja, shit happens, auch wenn man ihn klar und grusig sieht. Aber ist der wirklich immer nötig? Jedenfalls schritt ich gegen die Bibliothek im Sihlcity zu, kurvte dort durch die Leute vor dem Kino, landete direkt bei dem Bibi-Einwurfschlitz für Rückgaben ausserhalb der Öffnungszeiten, war nun schon ein wenig aufgemuntert. Vom schnellen Gehen und der Tatsache, dass ich juhu genau an der richtigen Stelle gelandet bin. Ich warf die DVDs ein, dann dachte ich fleissig weiter nach: Wieso kannst du nicht vorher wissen, was du wirklich willst? Ich meine, das kann doch nicht so schwer sein, du denkst doch schon Jahre darüber nach, ob du sowas willst. Da blickte ich zufällig (oder eben nicht) nach rechts, genau auf eine verschlossene Türe, wohl des Kinos, darauf gross und leuchtend und grasgrün: NOTAUSGANG! Will heissen, hier können Sie wieder raus, wenn Sie SOFORT raus müssen. Kann womöglich Leben retten, gäll?

Und da merkte ich, dass ich gar nicht so blöd gehandelt hatte: Ich hatte in einem Dilemma – soll ich oder soll ich nicht? – fix den Notausgang gewählt. Das ist legitim und viel besser als sitzenzubleiben und einen Schuh voller ähem Scheisse rauszuziehen. Oder sich einen Infekt einzuhandeln. Oder was auch immer. Was ich ja vorher merke, denn ich bin ja als langjährige Journalistin mit einem scharfen Auge bewaffnet, sehe und höre vorher mehr als genau hin. Manchmal verdamme ich dieses Talent, wieso kann ich mich nicht einfach mal überraschen lassen? Einfach so.

Nein, das geht nicht gut. Stichwort Anfragen für Lesungen. Vor einiger Zeit fragte mich eine Frau telefonisch an, ob ich ziemlich weit weg lesen würde. Um neun Uhr früh, für die Damen des Kirchenkränzchens. Ich informierte sie über meine Honorarvorstellung, dass Reisespesen extra seien. Da war sie schon etwas verdutzt. Über Geld hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht. Dann klären Sie das doch bitte mal ab, sagte ich. Währenddessen werde ich den Anreiseweg checken. Der war kompliziert und lange. Ob ich nicht wo übernachten könnte, zum Beispiel bei jemanden aus der Kirchengemeinde? Nö, meinte sie. Ob sie eine Buchhandlung im Ort hätte, die den Buchverkauf übernehmen könnte?, wollte ich wissen. Nein, die habe grad zugemacht. Ob mich jemand am Bus abholen könne? Nein, da müsse ich halt laufen, sie könne nicht Auto fahren. Ich musste fast lachen, sagte NIET, schlug jedoch generös vor: Man dürfe aber die Damen gerne in einen Bus laden, und ich würde Ihnen bei mir vorlesen. Antwort keine. Trotzdem machte ich mir einen Kopf, heute weiss ich, dass die Anfrage dieser faulen Trulla eine Frechheit war. Heute.

Es geht ja auch anders. Wenn ich so nett angefragt werde wie kürzlich, man gemeinsam mit mir überlegt, wie ich ohne Stress hinkomme. Die Verkaufsbücher vorher sogar bei mir abgeholt werden. Das Honorar klar festgelegt wird, ich es schon vorher problemlos erhalte. Wenn also alles in einem freundlichen Ton und praktisch mühelos vorbereitet wird, dann habe ich keine sogenannten Second Thoughts, also ein: Wie komme ich da bloss wieder raus! Nein, dann gebe ich gern mein Bestes, auch wenn ich mich, wie in diesem Fall, wirklich nicht so gut fühlte vorher. Ich packe dann eben was gegen Übelkeit ein, sage mir, dass ich es schon schaffen werde. Weil ich spüre: Das wird ein guter Abend! Ich bin ein Profi, die schwachen Momente kann ich auffangen und mein Publikum so gut wie möglich unterhalten. Es hat geklappt. Und alle waren zufrieden und gingen glücklich heim. Auch ich.

Da brauche ich wirklich keinen Sprung durch den NOTAUSGANG. Bei anderen Situationen halt hie und da schon. Auch künftig. Und als ich so die Türe mit dem Schild ansah, dachte ich: Ist das nicht lustig, wie mir dieses Schild hier sagen will, dass ich gar nicht blöd bin, sondern eher klug genug, zu merken, wenn ein vorzeitiger Abgang kombiniert mit einer (anständigen) Ausrede viel besser ist als die Chose dann brav auszubaden. So ein Spaziergang, der einem an Orte der Erkenntnis führt, ist wirklich etwas Feines, nicht wahr?

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Autor: Marianne Weissberg

Marianne Weissberg, studierte Historikerin/Anglistin, geboren in Zürich, aufgewachsen in Winterthur, ist ganz schön vollreif. Also eigentlich schon ewig da, was sie in ihren Knochen und im Hirn spürt. Lange Jahre verschlang das Lesepublikum ihre wegweisenden Artikel und Kolumnen in guten (und weniger guten) deutschsprachigen Zeitungen und Magazinen. Persönlichkeiten aus Film, Literatur und Musik wie etwa Robert Redford, Isabel Allende und Leonard Cohen redeten mit der Journalistin, die ganz Persönliches wissen wollte, und es auch erfuhr. Irgendwann kam sie selbst mit einer Geschlechter-Satire in die Headlines und begann in deren Nachwehen ihre zweite Karriere als Buchautorin. Auch hier blieb sie ihrer Spezialität treu: Krankhaft nachzugrübeln und unverblümt Stellung zu beziehen, bzw. aufzuschreiben, was sonst niemand laut sagt. Lieblingsthemen: Das heutige Leben und die Liebe, Männer und Frauen – und was sie (miteinander) anstellen in unseren Zeiten der Hektik und Unverbindlichkeit. Und wenn man es exakt ansieht, gilt immer noch, jedenfalls für sie: Das Private ist immer auch politisch – und umgekehrt.

Sonst noch? Marianne Weissberg lebt mitten in Züri. Wenn sie nicht Kolumnen oder Tagebuch schreibt, kocht sie alte Familienrezepte neu, betrachtet Reruns von „Sex and the City“, liest Bücher ihrer literarischen Idole (Erica Jong, Nora Ephron, Cynthia Heimel) oder träumt davon, wie es gewesen wäre, wenn sie nicht immer alles im richtigen Moment falsch gemacht hätte. Aber das wäre dann wieder so ein Thema für einen neuen Kult-Text.

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