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Was noch zu sagen gewesen wäre

«Der Hocker war viel zu hoch, aber ich war stolz, dort oben zu sitzen und Pommes zu essen. Meine Mutter sah auf einem Barhocker immer unglaublich toll aus. Ich war ein kleines Mädchen. Ich glaube, wir hatten französisch geredet. Es könnte vielleicht in Paris gewesen sein. Später waren wir in New York und in der Nähe vom Broadway gab es noch mehr Barhocker. Barhocker, grelle Lichter und das hypnotische Lächeln meiner Mutter. Ihre Stimmbänder mussten da noch in Ordnung gewesen sein und sie hatte vermutlich auch noch keine Rückenschmerzen gehabt. Im warmen Licht der Bars und Restaurants erschien mir meine Mutter wie eine Königin, oder mindestens wie eine Prinzessin, vor der alle Respekt hatten und deren Schönheit nie verblassen würde. Die Schönheit glaubte das wohl auch, meinte sie würde nie älter werden.»

«Ich war ein kleines Mädchen gewesen und stolz auf meine Mutter. Die Schauspielerin. Später war es ein Barhocker in Stockholm, der Tresen sah irgendwie einsamer aus, die Böden waren dreckiger und sie sagte, wir müssten sparen. In Schweden war ich schon nicht mehr so klein und ich weigerte mich, die Zöpfe zu flechten, von denen sie immer fand, dass sie mir gut standen.»

«Ich hätte dir sagen sollen, dass die Dinge nicht schwierig waren, dass es einfach war. Wir hatten, was wir brauchten, zwar las damals kein Schwein, was ich schrieb, aber teilweise konnte ich etwas Werbung machen und wir waren in Ordnung. Ich hätte dir sagen sollen, was ich fühlte, hätte es versuchen sollen. Du machtest mich stärker, schöner und vielleicht hatte mein Leben mit dir mehr Sinn, als die Geschichten, die ich zu schreiben versuchte und immer wieder in letzter Sekunde entwischten. Das beste und das schlimmste hätte ich dir beichten sollen. Was ich auf keinen Fall hätte tun sollen, ist anfangen zu warten. Obwohl das etwas ist, was Schriftsteller gut können.»

«Sie sprach nie viel von meinem Vater. Klar, er hatte ein paar Drehbücher geschrieben. Irgendwo in einem Schuppen im Westend reservierten sie immer einen Tisch für ihn. Manchmal sprach sie von ihm, wenn sie meine Haare bürstete. Dass war es, was meine Mutter unter Disziplin verstand: So viel wie möglich mit der Bürste durch die Haare fahren. Wenn genug gebürstet war, fing sie an zu lächeln, manchmal sang sie ein bisschen, verschwand im Bad und kam verwandelt wieder hinaus. Dann freute ich mich, weil ich Pommes bekommen würde und länger aufbleiben durfte. Das war toll.»

«Irgendwann fiel mir auf, dass ich keine Fernsehserie kannte, nicht die blasseste Ahnung hatte, was ein Transformer oder ein Pokémon war. Manche von den anderen Mädchen hatten Lieblingspferde, seltsame Puppen, die eine Mischung aus Hexen und Rockstars waren, während ich eine endlose Liste europäischer Theater herunterbeten konnte. Ich kannte die Namen grosser Stücke, grosser Schauspielerinnen, toller unterhaltsamer Leute, deren Glanz einen blendete. Der Schatten war noch zu gross, zu tief, als dass ich ihn hätte sehen können.»

«Was hätte ich sagen können. Ich starrte auf die Wand in der U-Bahn. Suchte nach Worten, ging am Fluss spazieren, führte Tagebuch, nur um klarzukommen. Du hattest die Rolle nicht bekommen. Der Regisseur war ein Arsch. Und ja, jetzt, da ich etwas erfolgreicher bin und mehr von ihnen kenne, kann ich sagen, manche von ihnen sind einfach Arschlöcher. Seltsam war nur, warum das so schlimm war. Die Welt stand uns offen. Es spielte keine Rolle. Wir waren jung, nicht erfolgreich, aber wir hatten uns. Es war nicht einmal so, dass du die Schauspielerei besonders mochtest. Oder soll ich erzählen, wie oft du in der Garderobe weintest, wie du endlos wütend mit der Bürste durch deine Haare fuhrst und auf französisch-englisch-deutsch fluchtest. Wie hätte ich uns neu erfinden können? Wie eine Mischung aus Schönheit und Stärke schaffen, die uns getragen hätte? Je mehr mir die Worte fehlten, je mehr ich scheiterte, umso länger ging ich der Themse entlang, verlor mich manchmal in den Bars und fing ich an zu warten, weil ich meinte, es würde nie reichen, was ich dir als süssestes Geheimnis würde geben können.»

«Ich erinnere mich fast nicht mehr an meine Mutter. Kann mir ihr Gesicht nicht mehr recht vorstellen. Dafür kann ich endlos viele Wodka-Marken aufzählen. Wir haben nie viel miteinander gemacht. Stolichnaya, Belaya Rus, Medweff, Pearl und es geht immer weiter. Manchmal lagen die Flaschen überall. Seit einer Weile hatte sie aufgehört zu reden, stattdessen hatte sie angefangen zu schreien. Darum wollte ich nur noch lesen und in der Schule getraute ich mich nicht lauter als im Flüsterton zu sprechen. Immer wieder hörte ich, sprich doch lauter. Aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht. Ich hoffte, Worte würden mich entführen, sie würden mich retten aus diesem Gemisch aus Gebrüll und umgekippten Wodka.»

«Ich versuchte, die Geschichte in Stockholm zu erzählen. Dann in Kopenhagen. Die anderen Schriftsteller sahen mich als gescheitert und ausgebrannt an. Ich wusste, es war ein Fehler gewesen. So sehr hatte ich nie die Wahrheit gesucht. Die Erinnerung war dabei, mir zu engleiten und je mehr ich versuchte, dich einzufangen, in ein Gefängnis aus Worten und Sätzen zu sperren, umso mehr ahnte ich, dass ich auch bei der Müllabfuhr oder als Schreiner ganz glücklich gewesen wäre. Unterdessen hatte jeder Kritiker in Europa einen Schuss gratis. Du warst ein leichtes Ziel. Eine gefallene Diva. Natürlich hatten sie keine Ahnung, wussten nichts von überstrapazierten Stimmbändern oder von deinem Rücken. Aber sie nutzten die Gelegenheit.»

«Meine Mutter erzählte nie etwas von meinem Vater, sie schien ihn komplett vergessen zu haben. Sie konnte es ihm nicht verzeihen, dass er eine gewisse Karriere gemacht hatte. Sie war zwar die meiste Zeit berühmter gewesen als er und hatte mehr verdient. Manchmal, das mit dem Wodka war noch nicht einmal, so schien es, als hatte sie erwartet, er würde ihr einfach die Abendrobe geben, als hätte sie erwartet, er wäre eine nette Dekoration und ein Babysitter für den grossen Star. In den späteren Jahren würde ich im Supermarkt für sie biligen Fusel kaufen müssen, obwohl ich dazu noch zu jung war. Es brachte mich immer wieder zur Verzweiflung. Und damals suchte ich nach Antworten. Heute weiss ich, heute weiss ich, dass du sie mir nicht geben konntest. Und meine Mutter kannte nicht einmal die Frage.»

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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