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Die Geographie der Unendlichkeit

Folgendes ging mir in der Morgendämmerung durch den Kopf: «Alle berühmten letzten Worte sind erfunden. Kein ‚Mehr Licht!’, kein ‚I am perplexed.’, kein ‚Nein, Schwester, ich möchte jetzt aber lieber Skifahren als sterben.’ Sie wurden nie ausgesprochen…»

«…von sterbenden Idolen. Vielmehr wurden sie erdacht und aufgeschrieben. Von einer eifersüchtigen Nachwelt, die ihre Berühmtheiten mit dem Tod in erwünschte Charaktermasken pressen wollte. Mittels aller zur Verfügung stehender Wortgewalt. Apotheose jener Verlogenheit, welche die Menschen ausmacht, in ihrem tiefsten Inneren.

Doch man kann es uns nicht übelnehmen. Können wir doch keinesfalls wissen, uns niemals darüber gültigen Aufschluss verschaffen, was, wer und wo wir eigentlich sind. Sind wir doch in unserem Kern alle ortlos, wortlos, ahnungslos. Da sind Lügen halt das einzige Mittel, das übrig bleibt, wenn man ein einigermassen taugliches Koordinatensystem aufstellen will. Wer essentiell aus Ungewissheit, aus Unwissenheit besteht, kann nur lügen. Wo soll denn da eine Wahrheit – bitteschön – herkommen?»

So denke ich. Im Morgenrauen, das in diesem Fall ganz gewiss keine strahlende Morgenröte des Menschengeschlechts ankündigt.

Sondern milchglastrüb’ über die Landschaft schleicht, über die Dächer der Häuser der Verdammten.

Gestern habe ich auch noch der letzten aller Ängste kalt und gefasst in die Augen geschaut, habe ihr «verschling’ mich doch, du Dreckschwein» ins hässliche Gesicht gebrüllt; jetzt habe ich keine Angst mehr.

Gestern habe ich auch noch das letzte sexuelle Tabu gebrochen, mit einer netten Dame, die mir zuliebe zu diesem Anlass einen Cage Strap Teddy von Trashy trug, einer lieben Lady, der die Sache dann aber – muss ich leider gestehen – auch ganz schön unheimlich wurde, immerhin, sie hat bis zum deprimierenden Ende mitgewirkt; jetzt habe ich kein Verlangen mehr.

Gestern habe ich auch noch die letzte Ekelschwelle überschritten, Sie müssten wohl kotzen, sehr geehrte Damen und Herren, wenn ich Ihnen beschreiben würde, was ich da genau angestellt habe, aber Sie lesen ja gerade, deshalb lasse ich es bleiben, ich will ja nicht, dass Sie ihren Computer beschmutzen; nun ekle ich mich vor nichts mehr

Alle drei Taten standen am Ende einer Serie, die vor Jahrzehnten angehoben hatte, damals, im Zeitalter der Raketenwürmer, der Nasensonden.

Meine Absicht war jene vielzitierte Überwindung der Welt, ihrer Erdenschwere, ihren engen, ach zu engen Fesseln.

Und was bleibt mir nun?

Milchglastrübe Melancholie am Morgen. Dazu eine Leere, die sich alles andere als heroisch anfühlt.

Denn Taten, an denen die Menschen ja anscheinend gemessen werden sollen, sind die grossen Vernichter der Träume.

Jede Tat tötet Potential, stranguliert Optionen, bindet dich stärker an dieses traurige Panoptikum, welches wir gerne Realität heissen, mangels anderer Begriffe, die ja gewiss besser passen würden.

Es sind überhaupt immer andere Begriffe, die besser passen würden – als jene, die gerade zur Verfügung stehen.

Doch, Himmelarsch, was heisst schon «Verfügung»…?

Natürlich trauere ich jenen grossen Lieben nach, C- und D. beispielsweise. Verschollen in vereisten Metropolen. Am Ende der Welt. Natürlich ist ein Blowjob, mit Liebe gegeben, anders. Als einer, der ganz ohne Liebe ausgeführt wird. Ich sage jedoch nicht: besser…

Natürlich.

Im milchglastrüben Morgengrauen zieht am Himmel endlich der Krieg auf, den wir uns alle verdient haben, ehrlich, redlich, für unsere Wehleidigkeit. Und die Messer der kosmischen Korsaren sehnen sich nach unserem weichen Fleisch.

Noch einmal Rosen riechen, bevor sie über uns sind, ihre Enterhaken werfen, noch einmal eine Flasche Glenfarclas 25 austrinken, noch einmal eine zeigefreudige Dame abschleppen, mit der ich Reise um die Welt spielen darf; aber ach, ich habe mein Verlangen ja schon ausgemerzt, gestern, mit jenen drei Finalen Schritten.

Milchglastrübe Melancholie ist mir geblieben – im Morgengrauen…

…und meine kosmische Uhr, ein magisches Modell, ein Apparat, den ich in den letzten Jahrzehnten gebaut habe.

Mit der Geduld eines Heiligen, der Geduld eines Heiligen…

Sie würden mir keineswegs glauben, welche Opfer ich für den Bau dieser Teufelsmaschine gebracht habe, meine zarten Damen und bitteren Herren.

Wenn ich an diesen mächtigen Zeigern drehe, bewegt sich der gesamte Kosmos mit. Wenn ich an diesen feinen Federn und Nadeln herumspiele, springen die Räder der Zeit aus ihren Naben. Wenn ich diese goldenen Rändelschrauben verstelle, verändert sich die Geographie der Unendlichkeit.

Und genau dies tue ich jetzt, ich verwandle Morgendämmerung flugs in tiefste Mitternacht, die Korsarenschiffe verschwinden sogleich vom Himmel, können sie doch nur frühmorgens angreifen. Sodann zerstöre ich meine Maschine.

Und was bleibt mir nun?

Ewige Mitternacht, damit ewige Freude, liebe Freundinnen, Freunde: Freude! Unter dem Blutmond heulend. Mit der Wolfsmeute. Mit blutigen Fangzähnen. Von der Menschenjagd.

Oder waren es bloss Schaufensterpuppen, gefüllt mit der traurigsten roten Grütze, die eine alte Baba Yaga nur anrühren kann?

Baba Yoga, mit ihrem messerscharfen Blick, ihren gloriosen… Hängebrüsten sowie ihrem Pfefferarsch?

«Alle berühmten letzten Worte», denke ich noch, «sind erfunden, frei und nicht einmal besonders gut, erlogen, erstunken.»

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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