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Die Lust an der Lust

Raben kreisen über goldenen Dächern. Der Himmel blau. Keine Wolken. Das ist hier, auf dieser Insel – sie liegt irgendwo im weiten Ozean des Vergessens – seit Jahrtausenden so. Tagsüber. Und die Oberfläche des Meeres erstreckt sich ganz ruhig, gleichsam wie ein Zen-Spiegel. Unter lachender Sonne.

Dann die Nächte. Sie fallen blitzschnell. Übergangslos. Abendstimmung wird einfach weggelassen.

Die Dunkelheit bringt Stürme. Regen spritzt aus schwarzen, aufplatzenden Wolken, wie arterielles Blut aus einer tiefen bösen Wunde. Winde zerren, reissen an goldenen Dächern, dazu Blitz und Donner. Sogar die Sturmkrähen suchen schützende Fensternischen auf. Kein Mond. Keine Sterne. Die Meeresfluten toben.

Bis zum Morgenlicht, das genauso unvermittelt aufblitzt. Wie die Nacht fällt.

Die goldenen Dächer auf unserer Insel sind üppig verziert. Mit Statuetten und filigranen Reliefs, Darstellungen fleischlicher Ausschweifungen, in die Frauen, Männer sowie allerlei Dämoninnen, Dämonen, letztere Gattung mit wunderschönen Körpern, monströsen Antlitzen versehen, involviert sind.

Darstellungen, in stilistischer Hinsicht einmalig auf der Welt, verwandt mit keiner anderen Kultur, keiner anderen Epoche.

Diese Statuetten und Reliefs stellen einen Katalog aller bekannten Spielarten der Fleischeslust dar, auch der ganz seltenen. Das sind erstaunlich viele.

Da ist die Selbstlust abgebildet, die Lust des Schauens, jene des Zeigens, die Lust an der Lust, die Lust an der Pein, die Lust zu zweit, zu dritt, in stetig wachsenden Gruppen, die sich ausdehnen und dann wieder zusammenfügen.

Zu einer einzigen riesigen Statue – sie steht auf dem grössten der goldenen Dächer -, welche gleichzeitig weibliche, männliche und dämonische Attribute aufweist. Zudem in ewiger Ekstase elektrisch vibriert.

Ein Gleichnis für das Universum, den Kosmos – und alles, was da sonst noch dazugehören mag.

Die Bild- und Formsprache kommt dabei ausserordentlich plastisch, gleichzeitig fliessend und elegant daher. Geschwungenen Schriftlinien gleich, welche auf die Ewigkeit verweisen.

Die goldenen Dächer bedecken nämlich eine Anlage, die aus Tempeln und Klöstern besteht. Seit Jahrtausenden leben auf unserer Insel, irgendwo im weiten Ozean des Vergessens gelegen, Priesterinnen und Priester des Eros.

Ein Orden, der sich dem reinen Schauer des Lebens verschrieben hat.

Sie führen ein gemächliches Leben der Sanftmut, der Sensualität. Unendliche Rituale der Langsamkeit und der Zärtlichkeit markieren hier den Lauf der Zeit.

Die ersten Stunden des Tages dienen der Arbeit, der Ernte jener bitteren, jener süssen Kräuter und Wurzeln, die auf dem Berg gedeihen, der sich in der Mitte der Insel erhebt, dienen dem Fischen sowie dem Gewinnen jener seltsamen fluoreszierenden Flüssigkeit, die in einer Grotte einer geheimnisvollen Quelle entspringt. Dieses Nass stillt den Durst, es ist leicht berauschend und verunmöglicht das Zeugen von Kindern.

Denn die Priesterinnen und Priester des Eros betreiben ihre Rituale weitab vom biologischen Zeugungsgedanken. „Rein“, wie sie sagen.

Alle fünf Jahre erscheint ein Schiff an den Gestaden unserer Insel, mit Ordensnachwuchs, sorgfältig ausgesucht und ausgebildet. In aller Mütter Länder.

Im Geheimen. Denn die grobschlächtige Menschenwelt würde die Rituale dieses Ordens missverstehen, ausbeuten, in den Schmutz ziehen. Deshalb wird das Eiland von mächtigen Seeungeheuern beschützt, die lediglich dieses eine Schiff passieren lassen.

Die späteren Stunden des Tages werden mit der Exploration von körperlichen, geistigen und seelischen Lüsten gefüllt, die sich langsam aber stetig steigern. In einer rücksichtsvollen, bewussten, freundlichen Art und Weise, die jede neue Stufe der Ausschweifung gemächlich erklimmt, freudvoll.

Bis die Sonne sprunghaft untertaucht, die Nachtstürme über Land und Meer fegen.

Dann steigern sich die Rituale zu einem Crescendo, einem wilden Tanz der transgressiven Lust, zum Rhythmus der Trommeln des Donners, denn nächtens gesellen sich die Dämoninnen und Dämonen dazu. Wobei jeder Akt Ausdruck einer freiwilligen Selbstvergessenheit ist, die in der traurigen Menschenwelt nur noch ganz selten vorkommt.

Spiele um Verführung und Selbstaufgabe, um Macht und Ohnmacht, werden auf unserer Insel als rituelle Funktionen begriffen, die unter Gleichen stattfinden. Die Rollen, welche einzelne Priesterinnen und Priester dabei einnehmen, folgen einer einzigen, aber komplexen Regel.

Jener der persönlichen Neigungen und Vorlieben der Beteiligten nämlich. Denn wisst, in diesen heiligen Hallen gibt es keine Hierarchie. Sondern ein schrankenloses Gebet der Sinnlichkeit, dem reinen Schauer des Lebens gewidmet. Hier wird auch das so genannte Schmutzige, Obszöne, Ordinäre zu einer differenzierten Kunstform. Im Dienst der Lust. Hier beten Körper und Seelen im Einklang. Um danach in einen tiefen Schlaf zu fallen, der gar wundervolle Träume zeugt.

Nur die Priesterinnen und Priester des geheimen Ordens sind sich über diese eine, diese wichtigste Wirkung der Rituale im Klaren. Entfalten sie doch jene kosmische Kraft, die unsere ganze Welt im Innersten zusammenhält, die dafür sorgt, dass der Himmel oben bleibt, der Boden unten. Wenn sie auch nur einen Tag aussetzen würden, wäre das Ende aller Zeiten angebrochen.

Also lobet sie, preiset sie, verehrte Leserinnen und Leser, jene Priesterinnen und Priester des Eros, die auf jener geheimen Insel wirken, die irgendwo im weiten Ozean des Vergessens liegt.

Ohne sie wären wir alle längst bleich und tot.

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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